US-Journalistin Jodi Kantor über #MeToo: „Der Kampf wird dauern“

Jodi Kantors Recherchen über Hollywood-Produzent Harvey Weinstein haben zu #MeToo beigetragen. Nun erscheint ihr Buch darüber auf Deutsch.

Schwarzweißbild: Presse und Kamerateams, dicht gedrängt, auf einen Punkt außerhalb des Bilds ausgerichtet

Presse außerhalb des Gerichts in New York, wo Harvey Weinstein im Februar verurteilt wurde Foto: John Taggart/Redux/laif

taz am wochenende: Frau Kantor, in Ihrem Buch „She said“ führen Sie uns zurück an den Ursprung der #MeToo-Bewegung. Ihre Mitautorin Megan Twohey sagte mal, sie habe bei den Recherchen über Weinstein an ihre eigene Tochter denken müssen, an die Töchter von Ihnen beiden. Werden unsere Töchter nach #MeToo seltener mit sexuell aufgeladener Macht konfrontiert sein?

Jodi Kantor: Alles hat sich verändert, und zugleich hat sich nichts verändert. Dieselben Systeme und Strukturen, die dies lange ermöglicht haben, existieren weiter. Frauen setzen weiter täglich ihre Unterschrift unter geheime Stillhalteverträge. Das Land hat für Donald Trump gestimmt, selbst nachdem Megan und ich eindeutige Anschuldigungen gegen ihn erhoben hatten. Und die meisten Sorgen müssen wir uns darüber machen, ob sich etwas für die Niedrigverdienerinnen ändert, für die Frauen, die bei McDonald’s Cheeseburger machen und von ihren Chefs schikaniert und bedrängt werden.

Aber Sie selbst sprachen einmal von einer „seismischen Veränderung“ durch die Recherchen. Glauben Sie vielleicht doch daran, dass diese nächste Generation nicht mehr alles einfach so unterschreiben wird?

Ich kann mir vorstellen, dass unsere Töchter sich in ein paar Jahrzehnten mit unseren Enkelinnen hinsetzen und die dann sagen: „Oh Gott, ich kann nicht glauben, dass ein solches Verhalten jemals akzeptiert wurde“, oder „Mama, das ist so von vorgestern. Wie konnten Leute so etwas bloß in Ordnung finden?“ Oder ich kann mir vorstellen, dass sie auf Reisen bemerken: „Doch, ja, dieser Mist passiert ständig.“

enthüllte 2017 mit Kollegin Megan Twohey die Weinstein-Story. Ihr Buch „She said“ ist jetzt auf Deutsch unter dem Titel „#MeToo“ erschienen

Als uns klar wurde, dass wir ein Stück dieser Geschichte in den Händen hielten, wollten wir zeigen, dass Fakten sozialen Wandel auslösen. Wir wollten die LeserInnen mitnehmen auf unsere Reise und ihnen die hinter verschlossenen Türen geführten Gespräche und die Treffen mit Schauspielerinnen und geheimen Quellen präsentieren, ebenso Weinsteins Vorgehen gegen uns vor der Pu­bli­ka­tion. Wir dachten, wir können etwas Allgemeineres über die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels aussagen – dass es dafür nicht nur starke Institutionen, sondern auch die Entscheidungen Einzelner braucht. Um den Lauf der Geschichte zu verändern, war es nötig, dass diese Frauen sich schließlich zur Aussage entschlossen.

Ihr Buch zeigt, dass Frauen, wenn sie sich dem investigativen Stoff zuwenden, andere Themen recherchieren als Männer...

Für mich heißt investigativer Journalismus vor allem, Geschichten zu erzählen, die zuvor niemand erzählt hat. Auch deshalb haben wir das Buch ja „She said“ genannt, weil wir die Dinge anders sehen.

und wenn wir von unterschiedlichen Perspektiven reden: Verstehen Männer, dass es bei all dem wirklich auch um Macht geht, Macht über Frauen?

Das war eine der wichtigsten Lektionen aus unserer Arbeit – und die, die am wenigsten auf der Hand lag: Viele glaubten, es gehe um Sex. Ich hatte mit einer Reihe von Hollywoodstars zu tun, die ich intensiv bearbeitet habe, dass sie öffentlich aussagen. Dazu gehörte Gwyneth Paltrow, die das für den ersten Artikel ablehnte. Aber für den zweiten war sie dazu bereit, auch wenn sie für ihren Entschluss länger brauchte. Sie sorgte sich vor der Veröffentlichung und sagte mir: „Jodi, das wird als Promi-Sex-Skandal dargestellt werden, und mir graut es vor wochenlangen Schlagzeilen über mich und Harvey Weinstein und Sex.“

Ich konnte gut verstehen, wie es sich für sie angefühlt hat. Mein Ziel war, ihr zu beweisen, dass sie Unrecht hatte. Mein Argument war, dass der Artikel eine sehr ernsthafte Diskussion auslösen würde, in der wir die Möglichkeit hatten, dass die Leute sich nicht auf die anzüglichen sexuellen Details konzentrieren, sondern auf die damit verwobene Frage der Macht. Was alle Opfer Weinsteins gemeinsam hatten ist, dass sie eine Chance bekommen wollten. Sie waren jung, und sie wollten an der Action teilhaben, wollten an einem aufregenden Arbeitsplatz tätig sein und sich dort beweisen, sei es als Schauspielerin oder als Assistentin. Sie wollten eine Chance. Und Weinstein hat das ausgenutzt und sie manipuliert. Und je mehr wir recherchiert haben, desto mehr waren wir davon überzeugt, beweisen zu können, dass es hier um Macht geht.

War das der einzige Grund für die Frauen, Stillschweigen zu bewahren: die Angst, in einer solchen, auch von Sex handelnden Geschichte genannt zu werden?

Es gibt so viele gute Gründe, nicht für eine Story wie diese on the record zu gehen. Heute, drei Jahre später, wissen wir, wie es ausgegangen ist, aber damals gingen diese Frauen ein enormes Risiko ein. Ashley Judd setzte ihre Karriere aufs Spiel, als sie als erste Schauspielerin öffentlich gegen Harvey Weinstein aussagte. Wir wussten nicht, ob die Öffentlichkeit darauf reagieren würde. Würde es jemanden kümmern? Mit welchen Mitteln würde Weinstein zurückschlagen?

Die berühmten Frauen dachten sich: „Oh mein Gott. Ich bin so berühmt. Alles, was ich mache, wird genau beobachtet. Ich habe so viele Projekte geplant. Andere Leute hängen von mir ab, ich kann das nicht unter meinem Namen machen.“ Und die Frauen, die nicht bekannt waren, etwa viele frühere Assistentinnen Weinsteins, dachten sich: „Ach Jodi, ach Megan, ich habe weder viel Geld noch andere Mittel. Niemand kennt meinen Namen. Das wird immer als erstes in Suchresultaten auftauchen, wenn jemand im Netz nach mir sucht. Ich weiß nicht, ob ich das wagen kann.“ Und das Wunder ist, dass diese Frauen ihre Furcht überwanden und es dann doch gemacht haben.

Die Medienbranche ist ja selbst nicht frei von den Vorgängen, über die Sie geschrieben haben.

Gewiss. Vieles wurde berichtet, und es gibt noch manches, wovon wir nichts wissen. Ich weiß nicht, ob das in Deutschland genau so ist, aber was #MeToo in den USA so wirkmächtig gemacht hat, ist, dass viele der in dem Zusammenhang beschuldigten Männer eine wichtige Rolle als kulturelle Vermittler spielten. Roger Ailes, Bill O'Reilly, Mark Halperin, Garrison Keillor, Matt Lauer, Charlie Rose. Das waren alles große Namen im Journalismus, sie haben Präsidentschaftsdebatten moderiert. Sie waren die prägenden Erzähler unseres Alltags und unserer Geschichte. Und Weinstein gehörte dazu. Er erzählte Geschichten auf der Kinoleinwand. Teil der Abrechnung, um die es auch in „She Said“ geht, war: Wer darf die Geschichten erzählen? Wer definiert, was passiert ist? Wer darf definieren, was die Nachricht ist?

Bald sind es vier Jahre Trump, „Black Lives Matter“ ist groß geworden, die Covid-19-Pandemie wütet. Hat sich die seismische Erschütterung abgeschwächt?

Ich glaube das nicht, denn jeden Tag werden neue Artikel veröffentlicht. Jeffrey Epstein ist immer noch eine Riesenstory in den USA. Dann geht es derzeit um die Turnerinnen, seit die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs gegen Larry Nassar, den Teamarzt in Michigan, öffentlich wurden. Aber es geht um das gesamte Sport-Business. Und es geht um unsere Arbeitsplätze allgemein, das Machtgehabe, die Kultur des Missbrauchs und der Misogynie dort, nicht nur um Sex. Der Schock, der die USA aufgerüttelt hat, hängt auch mit all diesen Dingen zusammen. Es geht darum, wer sich sicher fühlen kann und wer mit Respekt behandelt wird. Ich glaube also nicht, dass die Aufmerksamkeit nachgelassen hat und niemand mehr hinhört. Aber die große Frage ist, was an die Stelle der alten Regeln über Sex und Macht tritt. Nach all dem Missbrauch brauchen wir neue Leitlinien, wie man sich verhält, ohne andere zu verletzen oder seine Macht zu missbrauchen. Es ist ein Kampf, und es wird dauern, bis wir da zu einer Lösung kommen. Aber so fühlt sich sozialer Wandel eben an.

In der taz gab es in diesem Sommer eine harte Auseinandersetzung zwischen den journalistischen Generationen, um journalistische Prinzipien und Objektivitätsbegriffe. In der New York Times gibt es einen vergleichbaren Konflikt: Ihre ehemalige Kollegin Bari Weiss twitterte über „den Bürgerkrieg zwischen den (meist jungen) durch BLM,Aufgewachten' und den (meist über 40-jährigen) Linksliberalen“. Findet so der gesellschaftliche Wandel statt – auch in unseren Publikationen?

Ich glaube, dass mein Blick darauf ganz anders ist als Baris. Sie schrieb Meinungbeiträge. Ich glaube nicht, dass sie je im Newsroom der New York Times gearbeitet hat. Ich habe inzwischen fast 20 Jahre in so etwas wie einer der Herzkammern der Zeitung zugebracht, habe über Präsidentschaftsdebatten geschrieben, war investigative Journalistin. Nach meiner Erfahrung gibt es in der Times eine ständige Debatte, wie wir das, was geschieht, wahrheitsgemäß darstellen. Wie bleiben wir fair gegenüber vielfältigen Perspektiven, ohne in eine Art moralischen Relativismus zu verfallen? Wie sehen wir das Land und die Welt und stellen beide korrekt dar, in einer Zeit, in der alles zu zerbrechen scheint?

Ich weiß nicht, ob Sie in Ihrer Arbeit je das Gefühl hatten, dass die schwierigsten Dinge auch die besten sind. Aus all den Geschehnissen um uns herum destilliert man Zeilen auf einer Zeitungsseite – das ist das tägliche, stündliche, minütliche Wunder des Zeitungsmachens. Dahinter aber liegt der für Fehler anfällige, unordentliche menschliche Prozess: dahin, die Dinge so klar wie möglich zu sehen. In unserem Buch wird deutlich, warum meine Sichtweise sich von der Baris unterscheidet. Ich habe die New York Times als einen gesunden, starken, diversen und aufgeschlossenen, intellektuell ehrlichen Ort erfahren.

Ich kann mir kaum vorstellen, dass es bei Ihnen nicht auch einen Generationenkonflikt über die Frage gibt: Was ist Journalismus? Wie viel Subjektivität gehört zum Journalismus?

Selbstverständlich sehe ich, dass es große Generationenkonflikte gibt, mit denen sich Zeitungen jeden Tag konfrontiert sehen. Aber das hat bei meiner und Megans Arbeit keine besonders große Rolle gespielt, weil wir von dem Grundsatz ausgehen, dass Tatsachen soziale Veränderungen anstoßen. Wären wir wie Aktivistinnen an Harvey Weinsteins Geschichte herangegangen, hätten wir etwa am Ende unseres ersten Artikels einen kursiven Zusatz angefügt: „Um Geld an eine Organisation gegen sexuellen Missbrauch zu spenden, finden Sie hier weitere Informationen …“ oder so ähnlich – das hätte dessen Wirkung sehr geschwächt. Denn die Wirkung entsteht ja dadurch, dass wir nur an den Fakten interessiert sind.

Wir wollen keine globale Abrechnung auslösen. Wir bringen nur zuvor verborgene Tatsachen auf den Tisch, damit die Gesellschaft darüber debattieren kann. Wir sagen den LeserInnen, dass es auf ihre Reaktion ankommt, und nicht auf unsere Meinung. Und ich bin auch überzeugt: Wenn man es richtig macht, dann kann man mit dieser Herangehensweise gewaltigen Wandel auslösen. Für mich als Journalistin ist der wirksamste Aktivismus, offenen Aktivismus zu vermeiden – und sich auf die Fakten zu konzentrieren.

Aus dem Englischen von Stefan Schaaf

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