Neue Räume mit Musik erobern

Am heutigen Donnerstag beginnt das Festival für selbstgebaute Musik. Bei ihm ging es nie nur ums Selbermachen, sondern auch um das Miteinander. Das wird auch diesmal nicht im Internet stattfinden

So sah das früher aus. In diesem Jahr aber wollen die Veranstalter ein bisschen wegkommen von der Idee des Bastelns Foto: Annika Hallerberg

Von Stephanie Grimm

Beim Festival für selbstgebaute Musik ging es von jeher nicht nur ums Selbermachen, sondern auch um das Miteinander. Um Dinge also, die aktuell zu kurz kommen. Die gute Nachricht: Das Festival findet auch dieses Jahr statt, trotz Pandemie. Analog, interaktiv – und nicht im digitalen Raum, wie sonst so vieles im Kulturbereich. Das würde angesichts des stadtpolitischen Anspruchs, den die Veranstalter vom Künstlerkollektiv SelbstgebauteMusik (einem Projekt der Gruppe „Kollegen 2,3“, die auch sonst an stadtpolitischen und sozialen Projekte arbeiten) und von der Künstler*innengruppe Antje Öklesund haben, auch kaum Sinn ergeben.

Hervorgegangen ist das Festival aus einem Kiezfestival, das seit seiner Premiere vor zehn Jahren stetig wuchs. Konkret sah das im letzten Jahr so aus: Im Moabiter Zentrum für Kunst und Urbanistik konnte man großen und kleinen Gerätschaften unerwartete Töne entlocken; es gab gutes Essen, (Klang-)Kunst, Konzerte. All das wird es auch in dieses Jahr geben auf dem weitläufigen RAW-Gelände mit seinen verwinkelten Ecken und kleinen Spielstätten – und einem Pandemie-Awareness-Team.

Bei einer Begehung erläutern die Mit-Initiatoren*innen Lea Grönholdt und Hajo Toppius ihr Konzept – und was sie an diesen Ort gezogen hat, der oft gar nicht mehr als subkultureller Raum wahrgenommen wird, auch wenn er es teilweise noch ist. Sie selbst zum Beispiel haben ihre Werkstatt dort. Doch für viele ist die Gegend in erster Linie ein Indie-Ballermann, auch wenn sich die Ausgehmeile derzeit im Dornröschenschlaf befindet.

Die Entscheidung, das Festival hier stattfinden zu lassen, stand schon vor Corona. „Dabei waren wir durchaus zwiegespalten“, sagt Grönholdt, „eben weil das Gelände in den letzten Jahren so besetzt war. Es ging uns aber auch darum, ihm eine andere Färbung zu geben. Weg vom Easyjet-Tourismus. Hin zu: Hier finden Workshops statt, Familien können sich wohlfühlen.“ Toppius ergänzt, es gäbe viele Player auf dem Gelände, was Interessenkonflikte mit sich bringe. „Der Festivalgedanke ist auch: Wir bringen alle zusammen, veranstalten überall etwas – und gucken, wo sich Synergien bilden lassen.“

Passend dazu geht es in diesem Jahr neben dem Instrumenten- und Soundinstallationsbau ganz konkret um Räume. „Wir wollen die Idee von selbstgebauter Musik erweitern und ein bisschen wegkommen von der Idee: ‚Wir machen eine Gitarre aus einer Konservendose.‘ Auch wenn das cool und ebenfalls unser Ansatz ist. Dafür wollen wir hin zur Selbstermächtigung, hin zum Erobern von Räumen durch Musik. Abseits der klassischen Aufteilung: hier ist die Bühne, da das Publikum. Und jenseits von musikwirtschaftlicher Verwertung“, sagt er.

Die singende Pinkelrinne lässt Gesangsstimmen erklingen

Losgehen wird es am Donnerstag jedoch im Haus der Statistik, einem Ort, um den ebenfalls viel gestritten wurde und der nun nach über zehn Jahren Leerstand zu einem Pilotprojekt für eine neue Art der Stadtentwicklung werden soll. Unter anderem wird zum Auftakt das Ensemble Atonor auftreten, das mit Objekten des Komponisten und Klangkünstlers Erwin Staches Eigenwilliges schafft. Ebenso die Gebrüder Teichmann, diese umtriebigen Subkulturaktivisten und DJs. Sowohl Atonor als auch Andi und Hannes Teichmann gehören zu den „Kollaborationskünstlern“, die sich intensiver mit der Festivalidee und seinen Orten auseinandergesetzt haben. Am Freitag finden Workshops statt (nur mit Anmeldung). Samstag ist der eigentliche Festivaltag, bei dem es nicht zuletzt auch um die Besonderheiten dieses seltsamen Jahres gehen soll – und um diejenigen des Geländes.

Zwei Beispiele: Am Sonntag findet ein Fassadenkonzert statt, ebenfalls mit Erwin Stache und Musiker*innen vom RAW-Gelände. Stache wird in verschiedene Fenster des Gebäudes hineinleuchten. In jedem Fenster sitzt eine Musiker*in – schön auf Abstand, wie man das dieser Tage eben macht. Über die Lichtstimmung wird ausgelöst, wer als Nächstes spielt – keine vorgegebene Partitur, sondern eigene Stücke. Toppius erläutert: „Man kann sich das als ‚gelenkte Partizipation‘ vorstellen – ein Konzept, das uns sowieso interessiert. Wie kann so was funktionieren, ohne dass es einfach nur Krach wird?“

Eine Installation, die in Zusammenarbeit von Lena Olvedi und SelbstgebauteMusik entstanden ist, funktioniert dagegen nicht nur als Klangskulptur, sondern auch als Kommentar zu einem konkreten Missstand. Entworfen haben sie die singende Pinkelrinne, die als Keyboard fungiert und Gesangsstimmen erklingen lässt. Dass es auf dem Gelände keine öffentliche Toiletten gibt und überall hingepinkelt wird, treibt alle um, die hier Tag für Tag arbeiten – so unterschiedlich ihre Interessen auch sind. So lassen sich in diesem Jahr hier vielleicht nicht nur Klangwelten neu entdecken, sondern auch altbekannte Orte.

www.selbstgebautemusik.de/festival2020