Musikfest Berlin: Hörgenuss auf Abstand

Beim Musikfest Berlin war der Konzertbetrieb unter Einschränkungen zu erleben. Mit großen Momenten trotz übersichtlichem Publikum.

Eine Frau mit Instrument und ein Herr mit Anzug, beide tragen eine Maske, wenden sich auf einer Bühne einander zu.

Auf kurzer Distanz: Bratschistin Tabea Zimmermann und Tenor Christian Gerhaher Foto: Monika Karczmarzcyk

Es ist ein beeindruckendes, verstörendes und etwas traurig stimmendes Bild. Die Bühne des großen Saals der Philharmonie ist voll besetzt und dennoch äußerst luftig. Mit reichlich Platz dazwischen haben sich die Sänger des RIAS Kammerchors aufgestellt, zwei Meter in jede Richtung müssen frei bleiben, so die Hygienestandards des Berliner Senats. Bis kurz vor Beginn des Musikfests war unklar gewesen, ob die Proben für das Konzert überhaupt möglich sein würden.

Vorn neben dem Dirigenten Justin Doyle sitzt bloß noch der Organist Martin Baker, er steuert improvisierte Zwischenspiele bei, einige Chorstücke begleitet er unauffällig. Den Großteil des Programms bestreitet der Chor aber a cappella, Renaissancewerke von Orlando di Lasso, Palestrina, Gesualdo und Tomás Luis de Victoria, flankiert von mittelalterlicher Musik (Hildegard von Bingen) und einem frühbarocken Stück von Johann Bach, einem Großonkel von Johann Sebastian. Eine Stunde darf das Konzert dauern, so eine weitere Einschränkung für Vokalmusik.

Diese Stunde gestaltet der RIAS Kammerchor mit einer Fülle von schwebender mehrstimmiger Schönheit, die sich durch die räumliche Anordnung stärker als sonst in viele Einzelstimmen aufzuspalten scheint. Da der Chor einen sehr homogenen und transparenten Klang kultiviert hat, stört diese akustische Besonderheit nicht. Ebenso wenig der größere Hall, bedingt durch die Sicherheitsabstände beim Publikum, wodurch im Saal maximal ein Viertel der 2.400 Plätze besetzt sein dürfen.

Konzentration auf das Wesentliche

Das Musikfest Berlin, das am Mittwoch in der Philharmonie zu Ende ging, war keine Rückkehr zur Normalität des Konzertbetriebs, dafür jedoch ein erfolgreicher Test, wie sich Musik unter Pandemiebedingungen vor Publikum aufführen lässt. Was zu einer Konzentration aufs Wesentliche führte, wenn man so möchte. In der Philharmonie gab es weder Gastronomie noch Garderobe, keine Pausen in den Konzerten. Da nach anderthalb Stunden in der Regel Schluss war, wurde einem das Sitzen nicht lang.

Bloß das Gespräch am Rand kam weniger leicht zustande, auch weil die Besucher angehalten waren, sich je nach Sitzplatz zu einem bestimmten Eingang zu begeben und im Inneren den Farbmarkierungen für den eigenen Block zu folgen. Auf demselben Weg ging es dann wieder hinaus, Zufallstreffen waren so fast nur auf der Toilette möglich.

Musikalisch unterschied sich dieses Musikfest in einer Hinsicht deutlich von früheren Ausgaben. Das Festival, sonst eine Parade der großen internationalen Orchester, musste sich in der aktuellen Lage auf die Berliner Ensembles beschränken. Zu Besuch kamen lediglich Kammer­ensembles wie das Klangforum Wien, das Kölner Ensemble Musikfabrik und das Ensemble Modern aus Frankfurt. Insgesamt dominierten die kleineren, kleinen und ganz kleinen Besetzungen.

Wolfgang Rihm, Altmeister der Nachkriegsmoderne

So war das Abschlusskonzert, am Mittwoch zweimal hintereinander aufgeführt, dem Kammerwerk des Komponisten Wolfgang Rihm, einem eigensinnigen Altmeister der Nachkriegsmoderne, gewidmet. Handverlesene Musiker der Berliner Philharmoniker spielten in Besetzungen von sechs und neun Instrumentalisten neuere beziehungsweise überarbeitete Kompositionen in bedächtig voranschreitendem Gestus, die den einzelnen Tönen nachhorchten.

Im Zentrum des Abends stand die Uraufführung von Rihms „Stabat Mater“ für gerade mal zwei Solisten. Der Bariton Christian Gerhaher und die Bratschistin Tabea Zimmermann boten die Vertonung des mittelalterlichen liturgischen Texts als innigen zweistimmigen Klagegesang dar, manchmal expressiver, dabei stets lyrisch und konzentriert.

Dass sich beim Musikfest nicht allein räumliche, sondern auch ästhetische Abstände bemerkbar machten, wurde deutlich im direkten Vergleich des Abschlusskonzerts mit dem Auftritt der Stipendiaten der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker am Vortag. Dort standen jüngere Komponisten im Fokus, insbesondere die 1984 in Belgrad geborene Milica Djordjević war mit drei Werken vertreten.

Der Übergang zum Geräusch

Wo Rihm sich vorwiegend an herkömmlichen Spielweisen der Instrumente orientiert, die Musiker mithin Töne spielen lässt, interessiert sich Djordjević mehr für den Übergang vom Ton zum Geräusch, erzeugt durch schmirgelnde oder brodelnde Klänge eine dichte Atmosphäre, in der hauptsächlich die stark ausdifferenzierte Perkussion klare Akzente setzt. Oder verwirrende, wenn ein Schlagzeuger mit einer leeren Plastikflasche knistert.

Irgendwann fängt die Musik an zu swingen wie in einem Ragtime von Scott Joplin

Beethoven-Jahr war ja auch noch. Den Jubilar ehrte beim Musikfest ausgiebig der Pianist Igor Levit, der sämtliche 32 Klaviersonaten Beethovens auf acht Konzerte verteilt präsentierte. Den Abschluss machte die Trias der drei letzten Sonaten. Beethoven scheint in diesen Spätwerken die musikalischen Formen hinter sich zu lassen und seine Ideen spontan aus dem Material zu entwickeln.

So entspinnen sich im letzten Satz der Sonate No. 32 aus einem schlichten Thema immer aberwitziger bewegte Variationen. Irgendwann fängt die Musik an zu swingen wie in einem Ragtime von Scott Joplin. Bei Levit wurde daraus purer Jazz. Den stillen Momenten der Sonaten verlieh er eine so feine Spannung, dass man umso elektrisierter wurde, je leiser er spielte.

Bleibt zu hoffen, dass dies ein Auftakt für eine, wenn auch auf Sparflamme wieder anlaufende Konzertsaison war. Am Freitag meldete die eigene Corona-Warn-App die erste Risiko-Begegnung.

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