Wie Pfeifen im Walde

Der ungezwungene Austausch ist eigentlich das Markenzeichen in San Sebastián. Nach Venedig ist es das zweite Filmfestival, das nun unter Coronabedingungen immerhin stattfindet. Mit Woody Allen als Auftakt

Der neue Film von Woody Allen – hier ein Filmstill – spielt in San Sebastián und hatte nun ebendort Premiere. Die Wirklichkeit sieht allerdings deutlich coronageprägter aus Foto: Festival

Von Thomas Abeltshauser

„Wrap your troubles in dreams and dream all your troubles away“, flötet der Jazzstandard aus dem Jahr 1930 von der Leinwand im baskischen San Sebastián, wo Freitagabend mit „Rifkin’s Festival“ die Internationalen Filmfestspiele eröffnet wurden. Und der Titelsong der Komödie wirkt, als wolle er das mit Mundnasenschutz maskierte Publikum im mit 40 Prozent sozial distanziert ausverkauften Kursaal ebenso einlullen wie der Regisseur des Films sich selbst.

Der Regisseur heißt Woody Allen und ist seit geraumer Zeit mehr wegen nicht geklärter Vorwürfe um sexuellen Missbrauch in den Schlagzeilen denn als Filmemacher. Als deswegen Amazon Anfang letzten Jahres einen Vertrag über fünf Filme platzen ließ, wurde schnell ein neuer Deal mit einer spanischen Produktionsfirma bekannt gegeben. Gedreht wurde im Sommer 2019 in San Sebastián, auf dessen Festival die Handlung auch spielt. Wo also könnte der Film passender Weltpremiere feiern als ebendort? Eine Win-win-Situation, wäre der Regisseur nicht höchst umstritten und sein neues Werk nicht so erwartbar wie altherrenschmierig geraten.

Nach „Vicky Cristina Barcelona“, „Midnight in Paris“ und „To Rome with Love“ widmet Allen nun San Sebastián bereits als vierter europäischer Metropole in zwölf Jahren eine cineastische Postkarte. Das nordspanische Seebad dient ihm als mondäne Kulisse für eine ebenso wortreiche und dabei erstaunlich pointenarme Komödie um Mort Rifkin (Wallace Shawn), einen gesetzten Filmprofessor zwischen Hypochondrie und Schreibblockade, der seine deutlich jüngere Ehefrau Sue (Gina Gershon) zum Filmfest begleitet, wo sie als PR-Agentin einen erfolgreichen französischen Jungregisseur (Louis Garrel) betreut.

Den hält Mort nicht nur für prätentiös und untalentiert, sondern auch für einen Rivalen um die Gunst seiner Frau. Der daraus resultierende Herzschmerz treibt Mort bald in die Praxis einer jungen Ärztin (Elena Anaya), in der er gleich auch eine Art Seelenverwandte erkennt. Seine unbeholfenen Annäherungsversuche im Untersuchungszimmer mit leicht egomanischem Seniorencharme sollen komisch wirken, sind in ihrer Distanzlosigkeit aber vor allem höchst unangenehm.

Dazwischen hat Mort immer wieder Träume und Visionen, die sich um seine Neurosen und Ängste drehen, in ihren Schwarzweißbildern an Fellini, Truffaut oder Buñuel erinnern und Allens Liebeserklärung ans europäische Autorenkino sind.

Diese parodistischen Einschübe sind mal mehr, meist weniger amüsant und wirken wegen ihres ewiggleichen, selbstreferentiellen Stadtneurotiker-Humors angestaubt. Auch altbekannte Motive und Figuren aus dem eigenen Œuvre werden aufbereitet, etwas wirklich Neues erzählt der 84-Jährige in seinem inzwischen 49. Film nicht, allenfalls die Kulisse ändert sich. Dabei ist Allens Blick auf die Küstenstadt ein rein touristischer, die Figuren laufen durch ein pittoreskes Bilderbuchidyll, das so nie existiert hat und in der Coronarealität 2020 noch unwirklicher erscheint.

Die Figuren laufen durch ein pittoreskes Bilderbuchidyll, das so nie existiert hat

San Sebastián ist nach Venedig das zweite internationale Filmfestival, das seit der Pandemie physisch stattfindet, wobei das stark betroffene Spanien gerade von einer zweiten Infektionswelle überrollt wird. Entsprechend geschrumpft und mit hohen Sicherheitsstandards präsentiert sich das Festival, ein Wunder, dass es überhaupt stattfindet. Die Filmemacher, die sich auf den roten Teppich oder aufs Podium wagen, tun dies hinter Gesichtsmasken, die hier an öffentlichen Orten Pflicht sind, auch auf der Straße oder am Strand.

All das ist notwendig, und die Besucher verhalten sich entsprechend, doch es drückt die Atmosphäre einer kulturellen Institution, die sich in ihren 68 Jahren immer auch durch den ungezwungenen Austausch in den Pintxobars der Altstadtgassen und die Gastfreundschaft seiner Bewohner ausgezeichnet hat. Die Galaeröffnung war entsprechend verhalten, auch wenn die Organisatoren um Festivalleiter José Luis Rebordinos versuchten, Zweckoptimismus zu verbreiten.

„Das Kino wird niemals sterben“, deklamierte der geladene Cannes-Kollege Thierry Frémaux, aus dessen abgesagtem Jahrgang 17 Beiträge nun in San Sebastián gezeigt werden. Es klang ein bisschen wie das Pfeifen im Walde, doch die Eröffnungsgäste nahmen es mit dankbarem Applaus auf.