Korpsgeist in Sicherheitsbehörden: Im Namen der Solidarität

Viele Polizeiskandale der vergangenen Monate basieren auf einer Gruppendynamik. Innerhalb von Sicherheitsbehörden ermöglicht sie Fehlverhalten.

Eine unüberschaubare Menge von Polizisten

Kommissaranwärter bei ihrer Vereidigung Foto: Christoph Hardt/imago images

Zwei Polizisten sorgen dafür, dass ein Fotograf Anfang September vor dem Amtsgericht Brandenburg/Havel erscheinen muss. Die beiden Beamten werfen dem Mann vor, ihre polizeiliche Arbeit gewaltsam behindert zu haben. Der Anwalt des Fotografen präsentiert nach den Aussagen der Polizisten vor Gericht ein Video. Es dokumentiert eindeutig, dass es einer der Beamten war, der grundlos den Fotografen angegriffen und beleidigt hatte. Die Polizisten haben also gelogen. Ebenfalls im Video zu sehen: Drei weitere Polizisten, die die Szene mitbekommen, vor Ort nicht einschreiten und der späteren Täter-Opfer-Umkehr nicht widersprechen.

Bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen wird Mitte September bekannt, dass mehr als dreißig Beamt*innen jahrelang rassistische Nachrichten und Verherrlichungen des Nationalsozialismus über eine Chatgruppe geteilt haben sollen. Weder aus der Gruppe heraus noch im polizeilichen Umfeld der mutmaßlichen Täter*innen meldete sich jemand kritisch zu Wort. In den darauffolgenden Tagen wurde die Verwicklung von mehr und mehr Beamt*innen in diesen Skandal publik.

In der zweiten Septemberhälfte finden gegen 18 Polizist*innen in Mecklenburg-Vorpommern Razzien statt. Auch ihnen wird vorgeworfen, rechtsextremes Gedankengut in Chats ausgetauscht zu haben. Bei einem Ex-Elite­polizisten aus der Nähe von Schwerin wurde zuvor umfangreiches Datenmaterial sichergestellt. Es gibt Verbindungen zur Prepper-Gruppe „Nordkreuz“, die Teil eines bundesweiten rechtsextremen Netzwerks war und jahrelang unentdeckt operierte.

Ende September, eine Eilmeldung: Auch in Berlin chatteten mindestens 25 rechtsextreme Polizist*innen und tauschten zutiefst menschenfeindliche Nachrichten aus. Ein Vorgesetzter bei der Berliner Polizei bekam alles mit – und unternahm nichts.

Ein gemeinsamer Nenner

Das sind vier exemplarische Fälle aus einem einzigen Monat für ein Phänomen: Cop Culture. Denn viele Polizeiskandale, die in den vergangenen Monaten in Deutschland bekannt wurden, weisen einen gemeinsamen Nenner auf: Sie basieren auf einer Gruppendynamik, die innerhalb von Sicherheitsbehörden Fehlverhalten ermöglicht oder begünstigt. Es handelt sich dabei um eine Kultur der bedingungslosen Solidarität.

Zusammenhalt wird zum Selbstzweck und führt zu einer Abschottung gegenüber der Gesellschaft

Regina Arant ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Jacobs University Bremen. Die Psychologin forscht zum Wir-Gefühl, zur Solidarität und zur Abschottung in geschlossenen Gruppen. „Beim Wir-Gefühl stellt sich ein Mensch zwei grundsätzliche Fragen: Wer möchte ich sein? Und wer möchten wir sein?“, sagt Arant. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe werde so mit der eigenen Identität verknüpft. Hat die Gruppe Erfolg, verspüre jedes einzelne Mitglied ein wohliges, gutes Gefühl. Hat die Gruppe weniger oder keinen Erfolg, versuchen sich einzelne Mitglieder aus der damit verbundenen Identitätskrise zu befreien. So weit die Theorie.

Arant skizziert bei so einer gruppenbasierten Identitätskrise drei Handlungsoptionen und erklärt, warum sie mal mehr und mal weniger umsetzbar sind: Man könne entweder die Gruppe wechseln. „Das ist aber oft nicht möglich, zum Beispiel bei ethnischen Minderheiten.“ Man könne sich aber auch einen anderen Vergleichsrahmen suchen. „Wenn man Fan von Werder Bremen ist, vergleicht man sich dann nicht mehr mit dem FC Bayern München, sondern mit einem Fußballklub, der weniger Erfolg hat. Zum Beispiel dem 1. FC Köln.“ Die dritte Option: andere Menschen abwerten. „Das führt oft zu Rassismus. Damit sich die eigene Gruppe besser fühlt“, sagt Arant. Dieser Abgrenzungsmechanismus könne sich in einigen Gruppen durchaus verselbstständigen.

Druck von außen

In einigen Fällen kommt es also weniger darauf an, ob eine Gruppe Erfolg hat oder nicht. Der Zusammenhalt wird ein Stück weit zum Selbstzweck und führt zu einer Abschottung gegenüber der übrigen Gesellschaft. Dadurch scheinen innerhalb der Gruppe Vergehen, Straftaten und der Bruch moralischer Standards legitimiert zu sein: alles im Namen der inneren Solidarität, der Polizei-Ehre und des Gruppen-Image.

Bei größeren Skandalen innerhalb von Sicherheitsbehörden, wie beim sogenannten „NSU 2.0“ oder der systematischen Verharmlosung von Rechtsextremismus im Kontext der NSU-Morde, ist es nämlich unwahrscheinlich, dass in den Behörden niemand vom entsprechenden Machtmissbrauch Wind bekommen hat. Die Empirie zeigt, dass bisher nur wenige Polizist*innen den Weg der Aufklärung beschreiten, wenn sie entsprechende Missstände mitbekommen. Es brauchte zumindest in Deutschland bis jetzt stets investigative Recherchen und Druck von außen, um Polizeiskandale aufzudecken. Whist­leblower*innen berichten der taz, dass sie unter enormen Druck gesetzt werden. Interne Kritiker*innen – selbst wenn die Kritik sich auf fehlende Beteiligung beschränkt – geraten ins Visier der eigenen Peergroup.

Von einer dieser raren, selbstkritischen Reflexionen kann Simon Neumeyer berichten. Der 23-Jährige war vor knapp vier Jahren Polizeischüler in Leipzig. „Polizist war damals mein Traumberuf. Ich dachte, dass ich mich so für die Demokratie einsetzen kann“, sagt er heute. Schon nach drei Wochen in der Polizeiausbildung erkannte er aber, dass der Alltag der sächsischen Cop Culture anders aussieht.

Braun statt blau

„Wenn wir beim Mittagessen saßen, sprachen viele sehr positiv über die AfD. Als ich sagte, dass die AfD eine rechtsextreme Partei ist, kam direkt Widerstand.“ Einer der jungen Polizeischüler habe dabei den Satz ausgesprochen: „Ich wähle lieber braun als grün.“ Und das sei nicht nur Rhetorik gewesen, erzählt Simon Neumeyer weiter. „Einer von meinen Mitschülern war beim NPD-Parteifest und hat rechtsextreme Lieder gesungen.“ Gruselige Anek­doten reihen sich im Gespräch mit Neumeyer aneinander: Ein Polizeiausbilder soll gesagt haben, dass man „wieder gut schießen lernen muss, weil so viele Flüchtlinge im Land sind“, ein anderer Dozent habe auffällig oft das N-Wort ausgesprochen, gesagt, man könne es ja heutzutage wegen „dieser politischen Korrektheit“ nicht mehr benutzen, aber mehrmals wiederholt: die ganze Klasse habe jedes Mal gejubelt. Ein Ethiklehrer habe pauschal und abwertend über Migrant*innen geredet, er fühle sich wegen ihnen nicht mehr sicher und sehe zum Beispiel an Silvester „viel zu viele von ihnen“.

Neumeyer erzählt, er habe sich aktiv Verbündete unter den 30 Poli­zei­anwärter*innen in seiner Lehrgruppe gesucht – und einen gefunden. „Der wollte aber nur im Verborgenen mit mir reden.“ Neumeyer wurde gemobbt und brach schließlich nach neun ­Monaten die Ausbildung wegen seiner ­politischen Haltung ab. Heute studiert er in einer anderen Stadt und will mit der Polizei nichts mehr zu tun haben.

Der Polizeiberuf sei vor allem für Menschen attraktiv, die wertkonservativ denken, „Recht und Ordnung“ wertschätzen und gleichzeitig sehr jung und beeinflussbar seien, sagt Dirk Baier. Er ist Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. „Man geht außerdem zur Polizei, um seine Männlichkeit voll und ganz auszuleben“, sagt Baier. Polizistinnen wolle er damit nicht aus der Verantwortung ziehen, die Performanz von Männlichkeit sei aber ein entscheidender Faktor mit Blick auf den Korpsgeist.

Strukturen langsam aufbrechen

„Kollegen, auf die ich mich im Einsatz verlassen muss, falle ich nicht in den Rücken. Eine kritische Feedback-Kultur steht dabei nur im Weg, weil man unter Polizisten eine Schicksalsgemeinschaft formt“, sagt Baier. Eigenständiges Denken werde so gehemmt. Die strikte Hierarchie in den Behörden sei ein strukturierender Faktor für die persönliche Entwicklung der einzelnen Beamt*innen. Existenzängste und eine Glorifizierung des Bildes der „guten Polizei“ spielen wesentliche Rollen. Diese Faktoren führen zu einer Kette von Reaktionen: weghören, nichts tun, Konfrontation vermeiden. Für Rechtsextreme mit gefestigten Glaubenssätzen, berichten Whistleblower*innen, bietet die Cop Culture ein gemütliches Umfeld.

Dirk Baier sieht die viel diskutierte und von Innenminister Horst Seehofer verhinderte Studie zu Einstellungen innerhalb von deutschen Polizeibehörden kritisch. Eine solche Studie sei derzeit wenig ergiebig. „Viele Polizisten werden sich im Kontext der aktuellen Debatte verweigern oder sozial erwünschte Antworten geben.“ Besser sei ein wissenschaftlicher Blick auf Strukturen, die Cop Culture begünstigen. Der strukturelle Charakter des Problems übersteige dabei die Einflussmöglichkeiten einzelner Beamt*innen.

Der Polizeiforscher Baier sieht nur eine Möglichkeit für einen Kulturwandel: „Er muss ganz oben beginnen. Horst Seehofer verhindert mit seiner Politik eine Kultur des Hinschauens.“ Es brauche innerhalb der verschiedenen Polizeibehörden dringend leitendes Personal, das kritische Diskussionen fördere. Beschwerdestellen, unabhängige Ermittlungen bei Fehlverhalten und anonymisierte Feedback-Kanäle könnten helfen, vorhandene Strukturen langsam aufzubrechen. Dieser Prozess würde laut Baier aber mindestens zehn Jahre dauern – falls er jetzt angestoßen werden sollte.

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