Ein Abschluss mit Liedern, in denen der Welt Adieu gesagt wird

„Hymnen der Zeit“ hieß ein Konzertabend des jungen Komponisten Kaan Bulak, der vorläufig letzte in der Philharmonie. Er spielte eigene Kompositionen, aber auch Musik, die mehr als 1.000 Jahre alt ist

Kaan Bulak mit seinem En­semble. Der Komponist sitzt am Piano Foto: Nailya Bikmurzina

Von Robert Mießner

Mit Stehapplaus kurz vor der Sperrstunde klang am Donnerstagabend eines der letzten Konzerte in der Philharmonie am Potsdamer Platz vor der wiederholten behördlichen Stilllegung der Berliner Kultur­einrichtungen aus. Der junge Komponist, Pianist und Produzent Kaan Bulak hatte den von ihm und seinem Ensemble bestrittenen Abend unter das Motto „Hymnen der Zeit“ gestellt; tatsächlich wurde es eine Musik zur Zeit, die da zu hören war: Ruhige, verhaltene Passagen kontrastierten mit forschen, robusten Momenten, ländlich-pastorale Einkehr mit an- und aufgerauter Expressivität. Bei alldem war das eine Musik zeitloser Empfindungen, die Kompositionen datierten aus diesem Jahr wie aus der Übergangszeit von Renaissance zu Barock; ja, der Abend sollte auf einen Brückenschlag ins byzantinische Konstantinopel hinauslaufen.

An den Anfang hatte Kaan Bulak seine Eigenkomposition „Edit for Strings“ gestellt. „Strings“ lässt sich hier sehr weit verstehen und schließt auch das Saiteninstrument Piano mit ein, das Bulak um einige Finessen erweitert hat: „Augmented Piano“ stand im Programmheft hinter seinem Namen, die wortwörtliche Übersetzung „verlängertes Klavier“ trifft recht gut, was er da tut.

Bulak erweitert sein Instrument mit elektronischem Equipment und Instrumentarium, „Edit for Strings“ erinnert an einigen Stellen eher an ein Orgelstück, ist Raummusik. Neben dem Flügel war ein dunkel schimmernder Apparat platziert, der wie aus einen Science-Fiction-Film der Siebziger gefallen wirkte und der Bulak seit längerer Zeit schon auf seinen Konzerten begleitet: ein Radiallautsprecher, vom Komponisten gemeinsam mit dem Audiohersteller Martion konzipiert. Der echte Hingucker hört auf den Namen Lynch. Genau, David Lynch. Der amerikanische Regisseur des Unwirklichen und Andrei Tarkowski, der russische Regisseur der bewussten Langsamkeit, sind zwei der Inspira­tionsgeber für Bulaks Musik.

Dem Gang durch einen Wachtraum nicht unähnlich ist eine Komposition, die im Februar dieses Jahres auf der Bandcamp-Seite von Bulaks Label Feral Note erschienen ist und jetzt Teil des Philharmonie-Programms war: „Augmented Piano Quintet“ ist ein aus Barockmusik, Improvisation und Sound-Art gespeister Dreiteiler. Adagio, Sonore, Andante steht und klingt es da ganz klassisch, eine Kammermusik von und mit Leuten, die sich auch in einem Club denken lassen.

Einmal blockiert Bulak einzelne Saiten des Flügels, was beim Tastenanschlag einen Ton erzeugt, als hätte sich ein Klopfspecht elektrisch verstärkt. An anderer Stelle verwendet er den Rhythmus eines Herzschlags. Das klingt nach einer unverzagten Bass­drum und erinnert sehr schön an den Kölner Komponisten Wolfgang Voigt und seine Verknüpfung klassischer und technoider Klangsprache.

Stichwort Bässe: Eine dritte Komposition Bulaks, die „Cello Sonata No. I“ geriet von Hadjiev gespielt zu einem beeindruckend tief tönendem Drone-Stück

Kaan Bulak und seine Mitstreiter sind an diesem Oktoberabend des Jahres 2020 aber noch weiter zurück gegangen. Das zweite Stückbeispielsweise war ein Werk des italienischen Komponisten Carlo Gesualdo, „Quel ‚no‘ crudel che la mia speme ancise“, dessen Text, übersetzt von Christiane Hausmann, sich so liest: „Nun liegt sie hier durchbohrt / Von tausend Racheküssen meines Mundes, / Jene wilde Schlange, die inmitten von Blumen verblutet, / Von jenen schönen Lippen kam der Tod. / Oh welch glücklicher Sieg! / Und jene zarte Röte gibt den Liebenden / zu lesen: ‚Dies schöne Antlitz wurde durch Amor besiegt.‘ Und so besiegt Amor jedes Herz.“ Zu hören jedoch war das in einem Arrangement für Kaans Ensemble.

Mit ihm auf der Bühne waren die Violinisten Aoife Ní Bhriain, Alexander Jussow und Moritz Ter-Nedden, Friedemann Slencz­ka an der Viola, Stefan Hadjiev am Violoncello und die Kontrabassistin Kristina Edin. Stichwort Bässe: Eine dritte Komposition Bulaks, die „Cello Sonata No. I“ geriet von Hadjiev gespielt zu einem beeindruckend tief tönendem Drone-Stück.

Den Schlusspunkt setzte als Special Guest die Sopranistin Sarah Aristidou mit Liedern Kassias, eine der frühesten überlieferten Komponistinnen. Kassia, sie hat circa von 810 bis 843–867 gelebt, eine Frau, zu frech und zu klug für den Kaiser Theophilos, hat geistliche Hymnen geschrieben, die noch heute in der christlich-orthodoxen Kirche ihre Rolle spielen. Es sind Lieder, in denen einer Welt für eine andere Adieu gesagt wird. Auf schon unheimliche Art passt das.

Kaan Bulak & Ensemble, „Augmented Piano Quintet“, Feral Note