Fragen an Europa

Die Ausstellung „Kontinent – Auf der Suche nach Europa“ der renommierten Fotograf:innenagentur Ostkreuz stellt ein zerrissenes Territorium mit teils heftig traumatisierter Bewohnerschaft vor

Geschlossene Grenze in Zeiten der Pandemie. Heinrich Voelkel, Deutschland – Österreich; Grenzübergang Tittmoning, aus der Serie „No Easy Way Out“, 2020 Foto: Heinrich Voelkel/Ostkreuz

Von Tom Mustroph

Europa ist draußen, Europa ist drinnen. Auf der dem Westen zugeneigten Seite des Brandenburger Tors protestierte am Mittwoch, 28. Oktober, die Veranstaltungsbranche gegen die nationalen Shutdown-Schließungen, die ihrerseits Auswirkungen auf den gesamten Kontinent haben. Denn wenn in Deutschland keine Opern mehr produziert werden, leidet der internationale Opernmarkt an Nachschub. Abgesagte Messen beeinträchtigen ganze Branchen. Und der reduzierte Publikumsverkehr erschwert Veranstaltern auch in Ländern ohne Shutdown das Überleben.

Die Argumentation des Aktionsbündnisses #AlarmstufeRot lautete denn auch: Schließungen von Veranstaltungsorten, die selbst viel Geld in sichere Hygienekonzepte investiert haben, seien angesichts des intensiveren Infektionsgeschehens im privaten Umfeld zur Eindämmung der Pandemie kontraproduktiv. Denn so würden immer mehr Menschen in die unsicheren privaten Räume abgedrängt.

Diese Argumentation traf bei den politischen Entscheidern auf keine offenen Ohren. Und so stand denn auch die in der Akademie der Künste auf der Ostseite des Brandenburger Tors aufgebaute Ausstellung „Kontinent – Auf der Suche nach Europa“ unmittelbar vor der Shutdown-Schließung. Die Ausstellung ist eine Sammlung von 22 Fotoessays der Fotograf:innenagentur Ostkreuz anlässlich des eigenen 30. Jahrestages ihrer Gründung. Das zentrale Thema der Ausstellung ist, die Vielschichtigkeit und auch Zerrissenheit des alten Kontinents zu zeigen.

Auch Beobachtungen zum ersten Shutdown sind auf den Fotografien zu sehen. Heinrich Voelkel etwa fuhr die geschlossenen Grenzen Deutschlands während dieser Zeit ab. Provisorische Barrieren, die die Durchfahrt sperrten, sieht man da. Manchmal sind es auch simple Durchfahrtsverbotsschilder, die auf die geschlossenen Grenzen hinweisen.

Noch reisen konnte Harald Hauswald. Zwei Jahre vor der Pandemie machte er sich mit einem Interrailticket für Senioren auf den Weg. Er fuhr auf der historischen Strecke des Orientexpress von London bis nach Istanbul. Der Reiseweg allein mutet gegenwärtig abenteuerlich an. Die Schnappschüsse, die Hauswald mit dem Handy machte, zeugen von einer anderen, nur kurz zurückliegenden, aber längst vergangen scheinenden Zeit.

Überhaupt fällt bei der Ausstellung auf, dass das Graben in tieferen Zeitschichten die ausdrucksstärkeren Serien hervorbringt. Mila Teshaieva etwa bat in ihrem Heimatland Ukraine zahlreiche Protagonisten, ihr Familiengeschichten zu erzählen. Sie stellte sie dann fotografisch nach. So sieht man einen Mann mit Waffe durch den Sand robben. Der Großvater hatte im Zweiten Weltkrieg Kiew verteidigt. Daneben ein Bild mit mehreren Männern in Uniformen, die ihre Vorfahren nachstellen, die als Partisanen gegen die Sowjetunion gekämpft hatten. Bei einem Mann, der inmitten eines Trümmerfeldes steht, wird nicht ganz klar, ob die Erzählung sich auf den fast acht Jahrzehnte zurückliegenden Weltkrieg bezieht oder nicht doch auf die aktuellen Auseinandersetzungen in der Ostukraine.

Tief in den Zweite Weltkrieg taucht auch Maurice Weiss’ Schwarzweißserie über Symbole von Traumata ab. Eine alte Partisanin hält in ihrer faltenreichen Hand einen Revolver, den sie noch immer im Weinkeller aufbewahrt. Ein Mann steht vor einem Hakenkreuz-förmigen Fundament eines Denkmals, das – bis auf dieses Fundament – längst geschleift wurde. Patronenhülsen, Skelette in Massengräbern und Überreste des sogenannten Atlantikwalls sind weitere Zeugen der Ereignisse, die den ganzen Kontinent verwüstet haben.

Symbole jüngerer Verwerfungen sind Doppelporträts von Helfern für Geflüchtete. Je ein Bild zeigt sie, das andere die Arbeits- und Einsatzorte in Griechenland, im Mittelmeer, in Italien. Die Serie stammt von Annette Hauschild.

Die Crew beobachtet das Meer. Mission Lifeline, zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeer, 2017, aus der Serie „Die Helfer“, 2016–2018 Foto: Annette Hauschild/Ostkreuz

Von ihr stammen – wie ebenfalls von Maurice Weiss – auch Aufnahmen im Herzstück der Ausstellung. In einer extra installierten Kammer im Zentrum von einem der Säle werden Bilder gezeigt, die anlässlich des 25. Jubiläums der Agentur in Paris im Jahr 2015 entstanden. Unmittelbar nach der Eröffnung der Ausstellung erfolgten die Terrorattacken in Paris. Die in der französischen Hauptstadt weilenden Fotograf:innen dokumentierten am Morgen danach Einschusslöcher in Fensterscheiben, verängstigte Passanten, trauernde Angehörige und entschlossen guckende Sicherheitskräfte.

Ein bedrohtes Europa wurde hier sichtbar. Und zugleich wurde in jenen Tagen auch die Idee geboren, für das nächste Themenprojekt Europa auszuwählen.

Weniger ausdrucksstark in der Gesamtwirkung der Essays sind Bilder der Glas- und Stahlfassaden der Gebäude in mehreren europäischen Bankenvierteln, die Dawin Meckel beisteuerte; sie reproduzierten lediglich Klischees. Sinn für Details und für Farbkomposition beweist hingegen Ina Schoenenburg mit ihrer stillen Serie über die Grenzregion beidseits der Oder.

Insgesamt ist das eine vielschichtige Ausstellung, die in diesen Shutdown-Zeiten noch viel weiter als sonst die Augen dafür öffnen könnte, wie komplex, aber auch wie fragil der Kulturraum Europa ist. Immerhin sind die jeweils etwa halbstündigen Podcasts, in denen die Fotograf:innen ihre jeweiligen Zugänge zum Thema Europa erläutern, über die Website der AdK abzurufen.

Geplante Laufzeit der Ausstellung: bis 21. Januar 2021. Podcasts der Fotograf:innen www.adk.de/de/programm/?we_objectID=61262