Elegante Unbarmherzigkeit

Die Kunsthalle Darmstadt stellt mit „Heide Stolz. Affären“ das schmale, gleichwohl beeindruckende fotografische Werk der zu Unrecht vergessenen Fotografin aus

Heide Stolz, ohne Titel, o. J., Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier Foto: Nachlass Heide Stolz/Kunsthalle Darmstadt

Von Katharina J. Cichosch

Ein Mann schaut in die Kamera. Unweigerlich erwidert man seinen Blick, wirft ihn zurück auf den unscheinbaren Protagonisten, der sich mit Brille und Anflug von Doppelkinn in einem merkwürdigen Niemandsland aus Kieselsteinen positioniert hat. Dann wandert der Blick, und eine ungute Ahnung schleicht sich heran: Im Hintergrund liegt, beinahe unbemerkt, ein Paar im Kiesbett.

Würde sich das Motiv als Plattencover zum unterkühlten Wahnsinn der „Psycho Killer“-Art­rock­hymne der Talking Heads herausstellen, es könnte vieles erklären. Doch die New Yorker veröffentlichten den Song 1977; die Bilderreihe von Heide Stolz ist ein gutes Jahrzehnt vorher entstanden. Stolz hat Bilder geschossen, die den Betrachtern das Blut in den Adern gefrieren lassen. Vexierbilder von Männern und Frauen, Jägern und Gejagten, in kühlem, hart kontrastiertem Schwarz-Weiß, auf denen sich Rollen wie Zustände niemals in erlösender Gewissheit zuordnen lassen. In denen offen bleibt, ob der Protagonistin ein angst- oder lustvolles Lachen entweicht, ob die ausgezogene Frau im Bildhintergrund freiwillig am Baum lehnt, wann das Spiel aufhört und wo es beginnt.

Nicht mal bei Wikipedia

Mit gerade 62 Arbeiten bietet „Heide Stolz. Affären“ in der Kunsthalle Darmstadt eine der größten Retrospektiven der 1939 geborenen Künstlerin, die 1985 an einem Krebsleiden verstarb. Was sie bis dahin an fotografischen Arbeiten geschaffen hat, lässt sich nun wiederentdecken. Bis 1959 studierte Stolz Bildhauerei an der Kunstakademie Stuttgart, danach ließ sie sich in München zur Bildjournalistin ausbilden. Dort lernte sie die Gruppe SPUR kennen, wurde etwa von der Galerie Friedrich + Dahlem ausgestellt, doch ebenso rasch wieder vergessen. Nicht einmal ein Wikipedia-Eintrag ist Stolz vergönnt. Und wenn sich irgendwo eine kurze Biografie findet, dann meist im Doppel mit dem Vater ihrer Kinder, dem Maler Uwe Lausen, dessen Arbeiten neben Fotografien von Heide Stolz gerade in der Staatsgalerie Stuttgart zu sehen waren.

In Darmstadt konzentriert man sich nun auf das schmale, gleichwohl beeindruckende fotografische Werk von Stolz. Neben freien Arbeiten zeigt die Schau Auftragsarbeiten für die Werbebroschüre „FRAUEN“, die man ohne Hintergrundwissen problemlos als krawallige Persi­flage auf ebenjene Zeitschriften wahrnehmen könnte; außerdem Bilder, die Stolz für Künstlerfreunde von deren Arbeiten angefertigt hat.

Die ungeheuerliche, in der biedergemütlichen Nachkriegs-BRD ruck, zuck verdrängte Gewalt, die Lausens Malerei aus jeder Ecke tropft, findet sich in völlig eigener Form auch in der eleganten Unbarmherzigkeit von Heide Stolz’Inszenierungen. Schon visionär, wie sie Mitte der 1960er von Westdeutschland aus eine militante Pop- und Punkästhetik vorwegnimmt, die so erst viele, viele Jahre später im größeren Stile einschlagen wird.

Stolz schuf Vexierbilder in kühlem, hart kontrastiertem Schwarz-Weiß

Oder die Motive, auf denen Uwe Lausen mit der Flinte auf die gemeinsamen Töchter zielt, die das potenziell tödliche Geschoss interessiert bis belustigt begutachten. Kann mehr Ambivalenz in einem Moment stecken? Wie viel künstlerische Härte muss man gegen sich und andere aufbringen, um eben so ein Foto von den eigenen Kindern zu, nun, schießen? Der Firnis der Zivilisation ist dünn, bei Stolz reicht er gerade bis zur Hochglanzoberfläche ihres Fotopapiers. Manche Bilder muten wie die böse Wendung eines Wendy-Fotoromans an (Pferde und Gewehrläufe kommen nämlich auch vor). Mit ihrem Publikum sucht die Fotografin, die selten einmal selbst im Bild auftaucht, die voyeuristische Komplizenschaft. Und bietet ihm zugleich keine erlösende Narration für das sex- und gewaltgeladene, stets in der Schwebe bleibende Unheil.

Stattdessen immer wieder diese Blow-up-Momente; kleine Fotoreihen, in denen der Bildausschnitt dem gleichnamigen Film von Michel­angelo Antonio­ni gleich stetig ein Stückchen näher ans Motiv heranrückt, ohne dabei für seine Betrachter wirklich mehr Erhellung zu verschaffen. Auch die Ausstellung tut gut daran, sich selbst nur vorzutasten, keine abschließenden Urteile über ihre Künstlerin bereitzuhalten. Hinter Vitrinenglas kann man ein leider in ausgesprochen kleiner Schrift gedrucktes, herrlich bissiges Interview nachlesen, das die Künstlerin anlässlich einer Ausstellung mit Collagen gegeben hat.

Künstler, die ihre Gedanken und Gefühle zum Ausgangspunkt ihrer Kunst machen, straft Stolz darin als „Trottel“ ab, und zum Verhältnis von Kunst und Leben hat sie ebenso deutliche Ansichten: „‚Kunst als Leben‘ ist eine Lebenslüge: Wer nach dieser Maxime lebt, ist krank. Das Leben ist der Rohstoff, Kunst dessen Durchformung. Isolierte künstlerische Tätigkeit ist Spaltprodukt des Lebens, Kompensation des Mangels an Leben. Eine Art Kaffeeersatz für Leute mit abgestorbenen Geschmacksnerven.“ Gern hätte man mehr von Heide Stolz, die so messerscharf formulieren wie ihre Bilder inszenieren konnte, gesehen und gehört.

Bis 24. Januar 2021, Kunsthalle Darmstadt, Booklet, 9 Euro