Ärztin über Genitalverstümmelung: „Wir dürfen nicht wegschauen“

Cornelia Strunz hat das erste deutsche Fachbuch zu weiblicher Genitalver­stümmelung mit herausgegeben. Betroffene können oft nicht darüber sprechen.

Modelle von teils gesunden teils verstümmelten Vulven liegen auf einem Holztisch

Extreme Gewalt: Modelle, die die Auswirkungen von weiblicher Genitalverstümmelung erklären Foto: Fabian Weiss/laif

taz: Frau Strunz, es gibt keinen einzigen bekannten Fall in Deutschland, bei dem weibliche Genitalverstümmelung praktiziert wurde. Sie haben nun das erste deutschsprachige Fachbuch zum Thema herausgegeben. Wozu braucht es das?

Cornelia Strunz: Das braucht es, weil trotzdem sehr, sehr viele Frauen in Deutschland leben, die beschnitten wurden. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes geht von 74.000 Mädchen und Frauen aus. Sie wurden in ihren Heimatländern genitalverstümmelt, meisten im Alter von vier bis vierzehn Jahren, und kamen irgendwann nach Deutschland.

Wie kommt es, dass das Thema trotz der vielen Betroffenen so wenig öffentliche Aufmerksamkeit bekommt?

Für viele Frauen gehören die Beschwerden, die sie haben, einfach dazu: die Schmerzen, die Angst vor Berührung und Sexualität, dass das Menstruationsblut kaum abfließt oder dass sie 20 Minuten zum Wasserlassen brauchen. Und auch wenn sie wissen, dass sie beschnitten sind, bleibt es für viele ein Tabu, darüber zu sprechen.

Manche wissen es gar nicht?

Viele wissen es nicht, das stelle ich auch in meiner Sprechstunde immer wieder fest. Ich kläre sie dann behutsam auf. Bei mir rufen aber auch immer wieder KollegInnen an, GynäkologInnen, die sagen: Ich habe hier eine Frau, die ist beschnitten, aber ich wusste nicht, wie ich es ihr sagen soll und wie ich ihr helfen kann. Auch deshalb haben wir das Buch gemacht.

Es ist vor allem für MedizinerInnen gedacht?

Einerseits soll es auch für medizinische Laien verständlich erklären, was weibliche Genitalverstümmelung bedeutet. Deshalb gibt es zum Beispiel Erfahrungsberichte ehemaliger Patientinnen: Was ist ihnen widerfahren, was bedeutet das für sie und ihr Leben? Menschen, die mit Betroffenen arbeiten, ordnen zudem ein, woher die Praxis kommt und wie die rechtliche Situation hierzulande ist.

49, ist Fachärztin für Chirurgie und Gefäßchirurgie sowie Oberärztin am Desert Flower Center im Berliner Krankenhaus Waldfriede.

Zudem richtet sich das Buch auch gezielt an medizinisches Personal: ÄrztInnen und KollegInnen aus den Pflegeberufen, Hebammen zum Beispiel. Wenn die nie zuvor gesehen haben, wie eine Frau aussieht, die komplett zugenäht ist und bei der es nur eine stecknadelkopfgroße Öffnung zum Urinieren gibt, können sie in der Praxis auch nicht damit umgehen. Daraus entsteht Scheu, die Frauen zu behandeln.

In den Erfahrungsberichten schreiben Frauen von Glasscherben, mit denen ihnen Klitoris und Schamlippen herausgeschnitten und Dornen, mit denen sie bis auf eine winzige Öffnung verschlossen wurden. Was unterscheidet weibliche Genitalverstümmelung von männlicher Beschneidung?

Das ist überhaupt nicht vergleichbar! Würden Männer so beschnitten, wie Frauen beschnitten werden, hieße das, man würde den ganzen Penis entfernen. Weibliche Genitalverstümmelung ist eine extrem gewaltvolle Praxis. Laut Weltgesundheitsorganisation sterben 10 Prozent der Betroffenen an den akuten und 25 Prozent an den langfristigen Folgen.

Die Klinik

Das Berliner Desert Flower Center wurde 2013 gegründet, um Frauen, die von Genitalverstümmelung betroffen sind, ganzheitlich zu behandeln. Dazu zählen unter anderem psychologische Beratung, die Verminderung von Geburtsrisiken und die chirurgische Rekonstruktion von Genitalien. www.dfc-waldfriede.de

Das Buch

Uwe von Fritschen, Cornelia Strunz, Roland Scherer (Hrsg.): „Female Genital Mutilation. Medizinische Beratung und Therapie genitalverstümmelter Mädchen und Frauen“. De Gruyter Verlag, Berlin 2020, 218 Seiten

Zum Teil sind die Geschichten, die im Buch erzählt werden, unfassbar grausam – zum Beispiel die einer Geburt, bei der das Baby durch die Verstümmelungen im Geburtskanal feststeckte. Die Frau musste großflächig aufgeschnitten werden, das Baby starb dennoch. Auch die expliziten Fotos, die Sie zeigen, sind zum Teil kaum zu ertragen. Muss das sein?

Wir dürfen nicht wegschauen. Einer Frau, die bei uns in der Klinik war, ist genau das passiert, was Sie gerade beschrieben haben. Sie war schwerst traumatisiert. Diese Frauen leben hier, wir sind hier mit ihren Problemen konfrontiert und müssen einen Weg finden, damit umzugehen. Unser Ziel ist auch, über die furchtbaren Folgen von weiblicher Genitalverstümmelung aufzuklären. Wir müssen zeigen und sehen, welches Leid die Frauen ertragen – und dass es dafür medizinische Hilfe gibt.

Sie schreiben auch: „Die Angst vor dem Geschlechtsverkehr mit dem Ehepartner kann durch die Rekonstruktion vermindert werden.“ Heißt das, dass eine normale Sexualität trotz einer Operation nie lebbar sein wird?

Bei vielen Frauen ist ganz tief verwurzelt, dass jede Berührung schmerzhaft ist. Die Verstümmelung ist ja gerade darauf angelegt, dass Sexualität mit Qualen und Festhalten und Gewalt einhergeht. Unsere Aufgabe ist es, in jedem Einzelfall zu beraten und zu schauen, was möglich ist. In vielen Fällen sind wir dafür auf Spenden angewiesen.

Manche Frauen können nach einer Rekonstruktion Nähe zulassen, andere nicht. Und viele Frauen wollen auch gar keine Operation – weil sie Angst davor haben oder weil es letztlich auch ein Aufbegehren gegen die eigene Kultur und die Familie im Heimatland ist. Aber wenn sie sich dafür entscheiden, höre ich nach der Operation oft, dass sich die Frauen viel wohler in ihrem Körper fühlen, viel weiblicher.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.