Prozession in die Vergangenheit

Die Fluidität von Geschlechtergrenzen ist ein Ideal der Gegenwart. Aber gab es das womöglich schon im Spätmittelalter? Die Online-Performance „Who’s Afraid of Raimunda“ des HAU geht dieser Frage nach

Szene aus „Who is afraid of Raimunda“ von Josep Caballero Garcia, als die Performance noch auf der Bühne gezeigt werden konnte Foto: Hebbel am Ufer

Von Julia Lorenz

Irgendwann tat Raimunda das Unglaubliche: Sie nieste laut in der Heiligen Messe. Nicht nur, dass sie im ganzen Dorf dafür bekannt war, mit Männern Geschäfte zu machen und bestens über Politik Bescheid zu wissen – nach ihrem Fauxpas war es offiziell, sie musste eine Hexe sein. Raimunda lebte im 19. Jahrhundert in einem spanischen Dorf und war die Urgroßmutter des Tänzers und Choreografen Josep Caballero García. Zugleich aber ist sie eine Vielzahl an Personen: In seinem Stück „Who’s Afraid of Raimunda“ wird der Name zur Chiffre, die belesene Oma zur Allegorie für Frauen (oder vielmehr: Menschen aller Geschlechter), die mit Körpernormierungen brechen, sich gegen die Repressionen der Mehrheitsgesellschaft auflehnen, kurzum: die ein wenig Queerness wagen wollten, oft gegen heftige Widerstände.

„Who’s Afraid of Raimunda“ ist nach dem Gruppenstück „Melancholía“ die zweite Arbeit des Choreografen Caballero García, der in Berlin und Hamburg lebt. Die Bühnenfassung des Stücks wurde im Oktober 2020 am Hamburger Kampnagel uraufgeführt. Nun veröffentlicht er im HAU seine Suche nach den vielen Raimundas in der Weltgeschichte noch einmal als Film in drei Episoden, die collagenartig gestaltet sind: Am Anfang vermitteln Stills einen Eindruck von der Bühnenaufführung, später sind vor allem Aufnahmen aus dem HAU zu sehen. Bevor im letzten Teil die Geschichte der Großmutter Raimunda erzählt wird, müssen die Per­for­me­r:in­nen – Göksu Kunak aka Gucci Chunk, Lea Martini, Enis Turan und Caballero García selbst – erst einmal die zentrale Requisite des Abends basteln: Aus Folien und Tüchern legen sie behutsam einen riesigen Flickenteppich zusammen, ein Sinnbild der „patchwork identity“ und „patchwork spirituality“, von der später die Rede sein wird.

Im mittelalterlichen Spanien, so erfährt man im Anschluss in einer etwas didaktischen Geschichtsstunde, lebten Muslim:innen, Christ:innen, Jüdinnen und Juden Seite an Seite, bevor die Vertreibung der Juden im Jahr 1492 der friedlichen Koexistenz ein Ende bereitete. In dieser Phase der spanischen Geschichte soll nicht nur die Vielfalt der Religionen, sondern auch der Geschlechtsidentitäten groß gewesen sein. Auf seiner Recherche fand Caballero García Gedichte und andere Dokumente, die vom „queeren Iberia“ im Spätmittelalter erzählen. Im Film wird die Geschichte einer weiteren Raimunda erzählt, die im 12. Oder 13. Jahrhundert gelebt haben soll und transgender war.

Caballero García und sein Ensemble Queerpraxis begreifen Queerness, wie der Name schon verrät, nicht als Label, sondern als zu teilende Praxis. Wenn es im Stück also um Körper und ihre Veränderlichkeit geht, um Beweglichkeit und die Fluidität von Grenzen, ist also viel Handarbeit nötig. Mal dekorieren die Per­for­me­r:in­nen ihre Körper mit Bändern oder verbiegen voller Hingabe Notenständer, bis diese aussehen wie außerirdische Gebilde. Mal schreiten sie, gehüllt in bunte, glänzende, opulente Gewänder, auf Plateauschuhen rückwärts durch die Straße, hinein ins HAU, je­de:r ein leuchtendes Smartphone in der erhobenen rechten Hand – ganz so, als seien sie ein Prozessions- oder Protestzug, dessen Teil­neh­me­r:in­nen in ihrer würdevollen Renitenz sogar das verweigern, was einen Protestzug normalerweise auszeichnet, nämlich die Vorwärtsbewegung.

Ein Flickenteppich entsteht, Sinnbild der „patchwork identity“

Für den Widerstand gegen starre Identitätskonzepte finden Caballero García und sein Ensemble starke, im schönsten Sinne befremdliche Bilder. Die Bewegungen der Per­for­me­r:in­nen sind bei alledem vorsichtig, zärtlich, manchmal fast tastend, aber doch bestimmt.

Während sich diese Performances von Queerness ziemlich intuitiv erschließen, bekommt man in Caballero Garcías disparater Inszenierung nur sehr lose Fäden in die Hand. So werden immer wieder Notenständer eingeblendet, auf denen Zettel mit Namen von Künst­le­r:in­nen und Personen der Zeitgeschichte stehen. Sind etwa Nina Hagen oder die bereits verstorbene türkische Schauspielerin Ayşen Gruda ebenfalls Raimundas, also Grenzgängerinnen wie Caballero Garcías widerständige Urgroßmutter?

Was mit der Urgroßmutter und ihrem Hexenruf geschehen ist, will der Choreograf ebenfalls nicht verraten. Und so bleibt man am Ende der queeren Spurensuche mit spannenden Bildern im Kopf, aber ein wenig ratlos zurück. Der Flickenteppich mag ein gutes Symbol für die Vielfalt von Identitäten sein – als Gestaltungsprinzip taugt die Methode nur bedingt.

Freitag, 22.1., 19 Uhr, HAU4