Er spricht, sie schweigt

Bregje Hofstedes Roman „Verlangen“ überzeugt als essayistischer Roman

Als man dem anderen noch nahekam Foto: Hechtenberg/Caro/fotofinder

Von Marlen Hobrack

Ein Mädchen, das sich selbst für unattraktiv hält, verliebt sich in den hübschesten Jungen ihrer Klassenstufe. Aus den beiden wird ein Paar, sie wird Autorin, er wird Anwalt, er spricht, sie schweigt. Alles an dieser Liebeserzählung scheint zwangsläufig: Sie sind doch wie füreinander gemacht, lieben sich leidenschaftlich. Aber dann stellt sich heraus, dass ihre Erzählungen von dem, was ihre Beziehung ausmacht, ganz unterschiedlich sind. So geschieht es Bregje und Luc in Bregje Hofstedes Roman „Verlangen“.

Bregje, also jene in der Geschichte, ergreift die Flucht, mietet sich in wenig noblen Airbnb-Unterkünften ein, in ihrem Gepäck hat sie die Tagebücher, die sie seit mehr als einem Jahrzehnt verfasst – die Chronik ihrer Beziehung, mehr noch: die Chronik dessen, was sich Bregje und Luc erzählt haben. Unzählige Alltagsbeobachtungen, die sich zu keiner endgültigen Geschichte formen, eher zu einem Bild. Das Bild von einem Paar, das nur deshalb funktioniert, weil die eine Hälfte, Bregje, sich selbst verrät.

„Verlangen“ ist ein essayistischer Roman, der mit wenig Plot auskommt. Dass die Protagonistin der Geschichte heißt wie die Autorin, Bregje Hofstede, darf man als augenzwinkernden Verweis an Kritiker und Leser betrachten, die Geschichten von Autorinnen am liebsten als bekenntnishafte Beichten lesen wollen.

Am Ende ist es egal, wie „echt“ diese Bregje ist. Nur vordergründig geht es in „Verlangen“ um eine Frau, die ihre Beziehung auf den Prüfstand stellt. Tatsächlich geht es Hofstede darum, zu zeigen, wie wir nach und nach eine Erzählung von unserem Leben, den Lieben, den Erfolgen und Misserfolgen entwerfen.

Drei verschiedene Ebenen erzählen von immer derselben Frau, die doch jedes Mal verwandelt erscheint: Auf der ersten Ebene bricht Bregje auf, um auf Distanz zu Luc und der eigenen Geschichte zu gehen. Auf der zweiten Ebene berichten Bregjes Tagebücher von der schriftlich fixierten Version der Liebesgeschichte. Die dritte Ebene reflektiert die Möglichkeit der Verständigung zwischen zwei Menschen, die einander lieben. Und sie erkundet die Differenz zwischen körperlicher Nähe und dem Verstehen, das sich nur auf der Ebene der Sprache ereignen kann.

Was kann in einer Beziehung ausgesprochen werden, was steht zwischen den Zeilen, wann ist ein Schweigen bedeutungsvoll? Und diese Frage führt sofort zur allgemeinen Logik des Sprechens – wer schweigt wann und warum? Die Bregje der Geschichte schweigt ihren Geliebten immer dann an, wenn sie ihm widersprechen müsste. So wird ihr Schweigen auch zur Frage darüber, wann das Nicht-Sprechen eine Beziehung erst ermöglicht. Dafür ist Bregje umso häufiger erstaunlich direkt, wenn es um Beschreibungen des Sexuellen geht. Weder platt noch klischeebehaftet ist das Sexuelle bei Hofstede; eher ehrlich und roh.

Es entsteht das Bild von einem Paar, das nur deshalb funktioniert, weil die eine Hälfte, Bregje, sich selbst verrät

Kann man von dieser Bregje verallgemeinern, dass es ein weibliches Verschweigen ist, das eine reibungslose Beziehung ermöglicht? „Es gibt jeden Tag Hunderte von Dingen, die ich dir zuliebe tue oder lasse – so viele, dass dein Rat und mein Charakter nicht mehr voneinander zu trennen sind. Und mein allergrößter Liebesbeweis ist der, mir nichts davon anmerken zu lassen.“

Bregjes größte Kränkung ist, dass Luc ihren Erstlingsroman nicht liest. Kaum mehr als dreißig Seiten hat er bewältigt. Aber wie könnte er ihr jemals näher sein als in ihren Texten? „Blut. Tränen. Samen. Erst, wenn wir die Feuchtigkeit spüren, glauben wir, dass wir einen Menschen wirklich im Innersten berührt haben, ihm wirklich begegnet sind.“ Der Körper bleibt Oberfläche. Bregjes Körper verliert an Gewicht, als wolle er sich der Geschichte durch sein Verschwinden einschreiben.

Einen kleinen Einwand nur mag man gegen den Titel erheben. Zwar kreist der Roman auch um das sexuelle Verlangen, das diese Beziehung nährt und am Leben erhält. Der Titel erinnert aber zu sehr an seichte Liebesliteratur. Der Originaltitel, „Drift“, ist treffender. Auf Niederländisch meint es die Bewegung des Auseinanderdriftens, aber eben auch „Zorn“, die Abgrenzung vom anderen.

Bregje Hofstede: „Verlangen“. Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2021, 431 Seiten, 24 Euro