Spielfilm „Malcolm & Marie“ auf Netflix: Sehen ohne Vorurteile

Sam Levinsons Film „Malcolm & Marie“ ist ein Beziehungsdrama. Das Kammerspiel stellt zugleich Fragen nach gegenseitigem Erkennen.

Malcolm (John David Washington) und Marie (Zendaya) sitzen auf der Terrasse vor ihrem Haus.

Coronataugliches Kammerspiel: Malcolm (John David Washington) und Marie (Zendaya) Foto: Netflix

Malcolm (John David Washington) und Marie (Zendaya) kommen ­gegen ein Uhr nachts nach Hause. Während er merklich unter Strom steht, sich Whiskey eingießt, die Musik aufdreht, ist sie verdächtig einsilbig, streift sich die Schuhe ab, macht ihm Mac ’n’ Cheese.

Sie kommen von der Premiere seines neuen Films, der die Anwesenden begeisterte, in dessen Dankesrede er jedoch vergaß, seine Freundin zu erwähnen. Die Frage, ob es sich um einen kleinen Fauxpas oder aber um den Ausdruck seiner narzisstischen Gleichgültigkeit handelt, ist der Auftakt einer handfesten Beziehungskrise.

Der äußere Aufbau des Films „Malcolm & Marie“ ist denkbar einfach: eine Nacht, ein Schauplatz, zwei Menschen, zwei Gemütszustände – und er ist hervorragend für Corona geeignet. Sam Levinson, der nicht nur Regie führte, sondern auch das Drehbuch verfasste, wandte sich dem Projekt zu, als die Produktion der zweiten Staffel der Serie „Euphoria“ aufgrund des Virus auf Eis gelegt werden musste.

Auch in der HBO-Serie spielt Zendaya die Hauptrolle. Für die Darstellung der drogenabhängigen Rue wurde sie mit dem Emmy gewürdigt. Wie sich bald herausstellen soll, hat Marie eine ganz ähnliche Suchtvergangenheit, die Malcolm womöglich als Inspirationsquelle für seinen Film nutzte. Derartige Meta-Zusammenhänge und Bezüge auf die reale Filmwelt im Allgemeinen sind in „Malcolm & Marie“ omnipräsent.

„Malcolm & Marie“. Regie: Sam Levinson. Mit Zendaya, John David Washington u. a. USA 2021, 106 Min. Läuft ab 5. 2. auf Netflix

Seine Pandemie-Tauglichkeit wird dem Netflix-Film allerdings nie zum Makel, sie wirkt nie aufoktroyiert. Ja, man erklärt lieber, als zu zeigen. Zu sehen ist nur, was unmittelbar in dieser Nacht geschieht, auf Rückblenden wird gänzlich verzichtet. Doch egal ob geplant oder nicht: Der Intensität des Kammerspiels hat es gutgetan, dafür umso stärker auf spitze Dialoge, zwei herausragende Schauspieler und eine einnehmende Ästhetik setzen zu müssen.

Die Kamera weist den Weg

Letztere entfaltet sich in einem weitläufigen Haus mit tiefen Fensterfronten, dessen Potenzial Kameramann Marcell Rév voll ausschöpft. Mal zeichnet die Kamera dem streitenden Paar, von draußen durch das Fenster blickend, den Weg von der Küche ins Wohnzimmer vor. Mal wirft sie einen bedrückend langen Blick aus dem Schlafzimmerfenster, bis die Protagonisten davor endlich wieder im Bild erscheinen. Umgeben von einem dunklen Wald, wird immer wieder die Spiegelung anstatt der Figuren selbst gezeigt.

So entsteht ein Effekt, der wenig mit dem klaustrophobischen Gefühl gemein hat, das der Lockdown bisweilen hervorruft. Gerade die Distanz und Leere vieler Einstellungen erzeugt – ähnlich wie in den Bildern Edward Hoppers – ein Gefühl von Einsamkeit. Jeder Mensch eine Insel, die Schwierigkeiten im gegenseitigen Erkennen sind das eigentliche Thema von „Malcolm & Marie“, das sich durch alle Aspekte des Films zieht.

Die Tatsache, dass in Schwarz-Weiß gedreht wurde, lässt das Geschehen wiederum zeitlos wirken. Einige Themen, die in dieser Nacht verhandelt werden, sind es tatsächlich, wie der Großteil der Punkte im Streit zwischen dem Paar, der bald zu einer Grundsatzdebatte um urmenschliche Angelegenheiten wie Anerkennung und Abhängigkeit ausufert.

Vergleich mit Schwarzen Filmemachern

An anderen Stellen tangiert ihr Gespräch aktuelle Debatten. Dann ist der Film ganz auf der Höhe der Zeit. So wird gleich zu Beginn Malcolms Freude über die positiven Reaktionen der Presse dadurch getrübt, dass man ihn mit Spike Lee, Barry Jenkins – und damit ausschließlich mit Schwarzen Filmemachern – vergleicht. Er befürchtet, dass sie in seinem Film über eine Schwarze, drogenabhängige Frau, die einen Entzug durchmacht, allein ein Statement über Rassismus im Gesundheitswesen sehen könnten.

Dass Sam Levinson selbst nicht Schwarz ist, bietet Anlass zur Frage, inwiefern er sich zum Thema äußern kann und weshalb er seinem Protagonisten besagte Worte in den Mund legt. Dazu lässt sich zunächst festhalten: Seine Figur Malcolm wäre bereits über die Frage empört.

Denn als bei der Los Angeles Times die langersehnte erste Kritik erscheint, die seinen Film zwar als Meisterwerk bezeichnet, aber auch moniert, er habe zwar „das Stilmittel des weißen Retters brillant umschifft“, zugleich jedoch zu lang im durch geschlechtsspezifische Gewalt hervorgerufenem Leid seiner Protagonistin geschwelgt, folgt ein rasender Monolog.

Identitäten und ihre Motive

Malcolm echauffiert sich, dass man ihm als Schwarzen Filmemacher besagtes Stilmittel nicht vorwerfen könne, als männlichen Filmemacher den „male gaze“ aber unbedingt unterstellen müsse. Er moniert, statt des Films würden ausschließlich die darin vorkommenden und daran beteiligten Identitäten und ihre Motive gesehen, die in ihrer Gänze sowieso nie greifbar seien.

Warum habe sich David O. Selznick so lange mit „Vom Winde verweht“ herumgeschlagen? Und könnte es sein, dass „Moonlight“ so universell und genial ist, weil Barry Jenkins nicht schwul ist? Für Malcolm lautet die Antwort auf die Frage, was Filmemacher antreibt, dass man es schlicht nicht wissen kann.

Man kann darin ein vernichtendes Urteil Sam Levinsons über den Sinn von Kritik an sich sehen. So tut es ironischerweise die im Film angesprochene Los Angeles Times – diesmal real – in ihrem Artikel über „Malcolm & Marie“, der laut überlegt, ob das Motiv des Regisseurs und Autors ein so kleinliches wie Rache sein könnte – für eine schlechte Kritik der Zeitung zu Levinsons Thriller „Assassination Nation“.

Jenseits von vorurteilsbehafteten Zuschreibungen

Oder man sieht in Malcolms Monolog auch ein Nachdenken über das menschliche Bedürfnis, in Gänze, jenseits von vorurteilsbehafteten Zuschreibungen, zu sehen und gesehen zu werden. Für ihn bleibt es ein Mysterium, wie es gelingt, dem Publikum einen Schmerz nachempfindbar zu machen, mit dem man selbst nichts zu tun hat.

Was also kann ein jeder erkennen – und was nicht? Welche Erfahrungen verbinden uns – und welche sind bestimmten sexuellen, geschlechtlichen, kulturellen Identitäten vorbehalten? Und was qualifiziert uns dazu, über bestimmte Erfahrungen zu sprechen?

Um das Ringen um gegenseitiges (An-)Erkennen geht es schließlich auch zwischen Malcolm und Marie. Während er ihr vorwirft, von seinem Schaffen zehren zu wollen und seine Unterstützung während des Entzugs nicht zu würdigen, leidet sie darunter, dass er ihr ihre Geschichte genommen habe, ohne sie für die Rolle zu besetzen oder ihr wenigstens dafür zu danken.

Für seine sonstige Nuanciertheit kommt das Finale nach etwas über 100 Minuten recht plötzlich – und mit einem Song, in dem es heißt, „There’s a fine line between love and hate, you see“ („Liberation“ von Outkast), unnötig vereindeutigend daher. Ob man an den vorangegangenen Dialogen Freude hat, hängt wohl auch davon ab, ob man sich in Malcolms und Maries Auffassungen zu Kunst und Zwischenmenschlichem wiederfindet oder zumindest bereit ist, sich beherzt daran zu stören.

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