Kindertheater auch für Erwachsene: Wo Kunst und Leben sich berühren

Die Theatergruppe compagnie toit végétal inszeniert „Insekten“. Sie verknüpft in ihren Performances das Handgemachte mit digitaler Ästhetik.

Eine Frau aus der compagnie toit végétal bläst ein Stück Papier an, damit es sich bewegt und raschelt

Um die „Insekten“ zum Sprechen zu bringen, muss man auch mal die Backen aufblasen Foto: compagnie toit végétal

Die Insektenwelt schillert bunt. Chininpanzer glitzern in allen Farben. Aus einem braunen Seidenraupenkokon schlüpft ein fein-gemusterter Schmetterling, und wenn es Abend wird, fluoreszieren Falter im nachtblauen Dämmerlicht. Die compagnie toit végétal erzählt in ihrer neuen Arbeit sehr überraschend und gewinnend von den Formen, Farben und Mustern ganz verschiedener Insekten.

Im Theater ist das nicht gerade ein Modethema, aber Bilder, wie man sie aus Tierdokumentationen kennt, wären für das Theaterkollektiv compagnie toit végétal viel zu realistisch. Bei ihnen entfalten die Miniaturwelten der Insekten eine ganz eigene, stark verfremdete Schönheit, etwa wenn sich Ameisenstraßen in Video-Projektionen überkreuzen und sich die scheinbare Ordnung in ein chaotisches Gewimmel steigert oder sich Detailaufnahmen von Faltern und ihren Flügeln zu exotischen Gemälden überlagern.

„Insekten“ hatte im September 2020 am Jungen Nationaltheater Mannheim Premiere. Die Vorstellungen pausieren derzeit, wie an allen Theatern. Man muss also noch etwas warten, bis das Projekt wieder live gezeigt wird. Im Dezember gab es ein Streaming, und auch im Streammitschnitt packen einen die verfremdeten Bilderwelten, sie legen sich übereinander, so wie sich auch die echte Natur verwandelt, untermalt von Klangcollagen und wechselndem Tageslicht, bis es dunkel wird und das Zirpen, Rascheln, Flattern wieder verstummt.

Der Kniff dieser Theaterarbeit ist die zarte Künstlichkeit. Kein Insekt ist echt, stattdessen werden alte Schautafeln benutzt. Wenn Schmetterlinge vor der Kamera tanzen oder Käfer mit langen Fühlern herankrabbeln, dann sind das ausgeschnittene Papierzeichnungen, Kopien alter Kupferstiche oder manchmal auch nur Stempelbilder. Und doch erwachen sie auf der Bühne zum Leben.

Auch das Rascheln und Zirpen entsteht live

Das Herstellen dieser Ästhetik ist der zweite Erzählstrang von „Insekten“. Auf der Bühne sitzen drei PerformerInnen und arbeiten unter zwei Tischkameras. Auch das Rascheln, Zirpen und Kriechen der Insekten entsteht live. Der Musiker Michael Zier nutzt dafür ein Klang­instrument aus viel Holz, Drähten, Metallrohren, Kämmen und Borsten. In „Insekten“ ist auch das ein Hingucker und wurde von einem Instrumentenbauer extra für den Abend entwickelt und gebaut.

Die Verbindung der Zeichnungen mit dem Medium Livekamera, mit Tönen, Klängen und Musik, entwickelt in „Insekten“ illusionistische Faszination. Die Papierarbeiten sind einfach und sehr handwerklich, entstanden in Bastel- und Klebearbeit während der Proben. Die Filmästhetik hebt sich davon ab, erschafft eine exotische und streckenweise skurrile Fantasiewelt.

„Insekten“ ist erst die dritte Arbeit der compagnie toit végétal. Das Theaterkollektiv hat sich mit ihrer besonderen Medien-Kombination bereits einen Namen gemacht. Sie sind ein gutes Beispiel, dass in der freien Thea­terszene für Experimente mit digitalen Medien derzeit viel Platz frei ist.

Dabei passt die Gruppe gar nicht ins Online- und Netzthea­ter, auf dem seit dem Lockdown viel Augenmerk liegt. Sarah Mehlfeld, eine der drei GründerInnen, ist eigentlich Theaterpädagogin. Vor Jahren bekam sie das Bilderbuch „Akim rennt“ in die Hand, das von den Kriegserlebnissen eines Jungen erzählt. Er flieht, wird gefangen, schließlich gelingt ihm mit einer Flüchtlingsgruppe die Bootsfahrt übers Mittelmeer.

Mischung aus Live-Installation und Bildüberblendung

Die schwarz-weißen Zeichnungen der belgischen Illustratorin Claude K. Dubois zeigen Szenen mit Soldaten, in Flammen stehende Dörfer oder Menschen-Silhouetten in einem Flüchtlingstreck. Mehlfeld wollte die erzählerische Kraft der Originalvorlage erhalten und doch in ein eigenes Bühnenformat übertragen.

Zusammen mit dem Performer Thomas Jäkel und der Ausstatterin Christina Hillinger experimentiere sie erst einmal mit der Smartphone-Kamera, wie man die Zeichnungen abfilmen könnte, baute dann größere Szenerien und entwickelte daraus eine Mischung aus Live-Installation und Bilder-Überblendung.

Die Mittel sind immer wieder simpel: Küchenstahlwolle wird auseinandergezogen und verwandelt sich auf der Leinwand zu einem Stacheldrahtzaun. Beim Bombenangriff rieseln schwarze Papierschnipsel als Einschläge auf die Zeichnung. Und Kohle löst sich im Wasser zu bedrohlichem Wellengang, der das Boot in Not bringt. So setzen die PerformerInnen die Bilder in Bewegung und erzählen von der Härte der Flucht.

„Akim rennt“ war 2016 auf Anhieb ein Riesenerfolg, eingeladen zu mehreren Festivals. Bisher sind über 100 Vorstellungen gespielt worden. Die Zeichnerin Claude K. Dubois ist für die Gruppe wichtig geblieben. Nach einem Besuch bei ihr in Belgien benannte sich die Gruppe nach der grünen Dachterrasse von Dubois’ Haus: toit végétal.

Eine neue Mischung

Auch mit „Insekten“ überrascht die Gruppe. Ästhetisch docken sie an vertraute mediale Welten an. Die Mischung ist dennoch neu. Die Arbeit entstand an der Jungen Sparte des Nationaltheater Mannheim, gefördert vom Doppelpass-Projekt, das freie Gruppen und Stadt­theater verbindet.

Als Erwachsener staunt man, dass „Insekten“ für Kinder ab 5 gespielt wird, mit Video-Einsatz, der ästhetischen und erzählerischen Mehrwert schafft, voll auf der Höhe des zeitgenössischen Theaters. Video ist im Kindertheater voll integriert und wird in vielen Facetten genutzt. „Im Kinder- und Jugendtheater herrscht mittlerweile große Offenheit. Mediennutzung ist für Kinder ja sehr selbstverständlicher Bestandteil des Alltags“, so Theatermacherin Sarah Mehlfeld.

Sie selber achtet bei ihrer Arbeit auf analoge Verhältnismäßigkeit: Die Leinwand ist mit Bedacht nicht zu groß gewählt. Die Hände der SpielerInnen sind immer wieder im Live-Video zu sehen, und das junge Publikum sitzt möglichst nah am Geschehen. „Nähe und Austausch sind uns wichtig“, sagt Mehlfeld. Das von Hand Gemachte bleibt immer sichtbar und ist in den Nachgesprächen mit den Kindern immer ein Thema.

Die Vorliebe der Gruppe für Bilder- und Kinderbücher bildet einen anderen roten Faden. Bei ihren nächsten beiden Arbeiten, geplant für September und Dezember, soll das nicht anders sein. Die Erzählungen aus der Kinderwelt verwandelt die Gruppe mit viel Liebe zum Detail in multimediale Bilderwelten und erzählt, dass ihre Entstehung ein Zauberwerk ist, aber ein handgemachtes.

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