Proteste in Russland: Die halb blinde Opposition

Die Proteste gegen Nawalnys Verhaftung sind bitter nötig. Aber sie verdecken einen fundamentalen Mangel an Solidarität – auch bei Putins Gegnern.

Eine Person beobachtet vom Fenster aus eine Demonstration

Illustration: Katja Gendikova

In Russland gab es gerade Massenproteste, und dann gab es sie plötzlich nicht mehr. Die Organisatoren haben sie überraschend zurückgepfiffen. Doch die Arrestzellen sind immer noch voll mit Protestteilnehmern, und die Luft ist voll von Nazivergleichen. Die Polizei wird mit der Gestapo verglichen oder „Karateli“ genannt, eine aus dem Zweiten Weltkrieg stammende Bezeichnung für die Sonderkommandos der SS, die Vergeltungsaktionen zur Bekämpfung der Partisanen durchführten. Mal ist von einem faschistischen Regime die Rede, mal von „Okkupanten“: Eine Bande, heißt es, habe das Land besetzt.

Ein populärer Witz geht so: „Papa, in welches KZ werden wir gebracht?“ „Sei still, ich interessiere mich nicht für Politik!“ Gern werden Martin Niemöllers Worte zitiert: „Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen“, dann holten sie die Kommunisten, die Sozialdemokraten, die Katholiken, bis es keinen mehr gab, der für ihn protestieren konnte.

Es wird aber protestiert, und zumindest geografisch gesehen waren dies die größten Proteste, die das Land in der Putin-Zeit bislang erlebt hat. Allein am 23. Januar gab es Demonstrationen in über hundert Städten. Sie wurden mit demonstrativer Brutalität zusammengeknüppelt. Mehr als fünftausend Menschen wurden festgenommen.

Proteste gibt es, und sie sind nicht einmal selten. Dennoch sind Pastor Niemöllers Worte die treffendste Beschreibung der Lage. Sie verweisen auf zwei Eigenschaften der russischen Gesellschaft, unter denen sie im Moment besonders stark leidet: den Mangel an Solidarität und die antrainierte Blindheit für Unrecht, Gewalt und Erniedrigung.

Laut der Soziologin Alexandra Arkhipova, die Umfragen bei den Demos in Moskau und Sankt Petersburg durchführte, sind 38 Prozent der Teilnehmer in diesem Jahr überhaupt zum ersten Mal protestieren gegangen. Der Protest ist nicht jünger geworden, nur ein Viertel der Protestierenden war unter 25 Jahre alt. Der Protest ist nicht so sehr durch junge Menschen gewachsen, die dazustießen, sondern dank Erwachsener, die auf Missstände aufmerksam wurden und nun demonstrieren.

Die sozialen Netzwerke sind voller Empörung über Gewalt und Willkür, die man oft „beispiellos“ nennt. Von einem Meilenstein ist dann die Rede. Man sei in einem anderen Land aufgewacht.

Die vergessenen Proteste

Diese Gefühle sind verständlich. Doch die Formulierung „beispiellos“ macht fassungslos, weil sie ausblendet, was in Russland geschehen ist. Ähnliche Szenen gab es ja schon 2018 bei den Protesten, die Wladimir Putins Amtseinführung begleiteten, oder 2019 im Zusammenhang mit den gefälschten Wahlergebnissen bei den Regio­nalwahlen in Moskau und anderen ­Städten.

Auch damals wurden Protestierende zu Tausenden verhaftet und misshandelt. Auch damals schlugen schwer gerüstete Polizisten auf wehrlose Menschen ein, auf Frauen, Teenager und Senioren. Auch damals wurden unbeteiligte Passanten von den sogenannten Ordnungskräften ­angegriffen, Tausende wurden zu Geld- und ­Freiheitsstrafen verurteilt.

Unzählige Menschen wurden im Laufe der letzten Jahre wegen Teilnahme an Protesten oder regimekritischer Äußerungen entlassen oder exmatrikuliert. Wie blind muss man sein, um das alles nicht gemerkt zu haben?

Die jüngsten Proteste standen im Zusammenhang mit der Rückkehr nach Russland, der Verhaftung und Verurteilung des Oppositionspolitikers Alexei Nawalny, und es ist dieser Zusammenhang, der sie zu etwas Besonderem macht. Einerseits ist es die heldenhafte Entscheidung Nawalnys, sich buchstäblich in die Hände seiner mutmaßlichen Mörder zu begeben.

Nawalnys dunkle Seite

Nawalny will erklärtermaßen Russlands Präsident werden. Das ist ein ehrenwerter und vollkommen legitimer Wunsch, doch in Putins Russland, einer Diktatur ohne freie Wahlen, muss er dafür erst den Diktator Putin stürzen und freie Wahlen erzwingen. Dafür setzt er seine Freiheit und sein Leben ein. Das macht ihn sehr überzeugend. Doch es gibt auch eine andere Seite.

Der Aufruf zu den Demos für Nawalnys Freilassung erschien im Vorspann der Dokumentation über Putins geheimen Palast an der Schwarzmeerküste, die Nawalnys Team unmittelbar nach dessen Verhaftung auf Youtube stellte. Das Video wurde inzwischen fast 110 Millionen Mal aufgerufen. Das zeigte, dass Putins Gegner jetzt eine mediale Reichweite haben, die sich mit der der Fernsehpropaganda messen kann.

Zugleich ist es kein Zufall, dass ausgerechnet die Bilder von dem obszönen Korruptionsreichtum ein derart großes Interesse weckten. Das Thema Korruption scheint das einzige Thema zu sein, das in der russischen Gesellschaft heute breites Interesse finden kann.

Wahrnehmbare Proteste gegen den Überfall auf die Ukraine, die Annexion der Krim oder Russlands Bombenkrieg in Syrien gab es kaum. Das war nicht immer so. Noch 2008 protestierten beachtlich viele Menschen gegen den Einmarsch in Georgien und die Schikanen gegen Georgier. Nawalny, damals noch ein Hardcorenationalist, forderte dagegen mehr Bomben und Deportationen.

Heute triggern die Folter und Repressalien, die Verfolgungen der ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten oder die Justizwillkür keine spürbaren Reaktionen, und wenn schon, dann meistens nur, wenn sie sich in Moskau oder Sankt Petersburg abspielen. Die Hauptstädte interessieren sich kaum für die Provinz – und umgekehrt: Die Betroffenen können nur selten mit Solidarität außerhalb ihrer eigenen Gruppe rechnen.

Dafür riskieren die Menschen, die sich dennoch auf die Straße wagen, nicht nur staatliche Verfolgung, sondern oft auch noch den Hohn von Seiten der gleichgültigen Gesellschaft. In der Zeit der Peres­troika erfand der Historiker Juri Afanassiew dafür den Begriff „aggressiv-gefügige ­Mehrheit“. Diese Mehrheit ist, wie es scheint, seitdem noch gewachsen.

Eine der beschämendsten Episoden in der jüngsten Geschichte der russischen Zivilgesellschaft hatte ebenfalls mit der Korruptionsbekämpfung zu tun. Während die Ermittlungsbehörden unverhohlen politisch motiviert einen Fall angeblicher Veruntreuung durch den Regisseur Kirill Serebrennikow inszenierten, veröffentliche der russische Ableger der Antikorruptions-NGO Transparency International einen Bericht über die angebliche Korruption in Moskauer Staatlichen Theatern und bezichtigte Serebrennikow, sich selbst bereichert zu haben.

Er habe sich, so der Bericht, als künstlerischer Leiter des Experimentaltheaters Gogol Center auch noch selbst als Regisseur einiger Produktionen engagiert. Das sei ein krasser Interessenkonflikt und verstoße gegen die Regeln der öffentlichen Akquise. Auf die Einwände aus der künstlerischen Community, die Vorwürfe seien unsinnig und zeigten eine tiefe Unkenntnis des Theaterbetriebs, antwortete der NGO-Direktor, es gebe keinen Unterschied zwischen einem staatlichen Theater und einem Busdepot. Außerdem bekämpfe Transparency International Korruption und sei kein Menschenrechtsverein.

Demos als Wahlkampfhilfe

Serebrennikow konnte sich selbst dazu gar nicht äußern, weil er gerade unter Hausarrest stand. An diese Geschichte muss man ausgerechnet jetzt aus vielerlei Gründen denken. Erstens weil Serebrennikow just in diesen Tagen seine Position als künstlerischer Leiter des Gogol Center verloren hat. Zweitens weil er in diesem absurden Veruntreuungsprozess im Juni 2020 zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. Und drittens weil seine Geschichte viel zu sehr an den Fall Nawalnys erinnert.

Nawalny wurde nämlich 2014 aufgrund unsinniger Vorwürfe, er und sein Bruder Oleg hätten die Mittel der französischen Kosmetikfirma Yves Rocher veruntreut, zu dreieinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt. Diese Bewährungsstrafe wurde nun in eine Haftstrafe umgewandelt.

Dass Nawalny nun so viel Solidarität erfährt, ist erfreulich und zugleich etwas verstörend. Denn er selbst ist ein denkbar unsolidarischer Politiker, der noch dazu gern gegen Minderheiten oder Kritiker austeilt. Nun erklärte Nawalnys Mitstreiter Leonid Wolkow die Proteste für beendet: Man werde für Alexeis Freilassung international kämpfen, die Demonstrationen wolle man für den Sommer aufheben, wenn man sie für den Duma-Wahlkampf brauche.

Das führt in bitterer Deutlichkeit vor Augen, dass das Team Nawalny Proteste nur als Instrument im Machtkampf sieht. Dass die Leute nicht nur für Nawalnys Freilassung und schon gar nicht unbedingt für seine politische Agenda demonstrierten, scheint ihn und sein Team nicht zu berühren. Dass man demonstriert, um seine Empörung über Unrecht und Gewalt zu zeigen und seine Würde zu bewahren, spielt in diesem Machtspiel keine Rolle.

Dabei gibt es noch viele andere Häftlinge, für deren Freilassung es sich zu kämpfen lohnt, die auch Solidarität brauchen, und zwar hier und jetzt. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass die in Moskau verhafteten Teilnehmer der Demonstrationen für Nawalnys Freilassung ausgerechnet in einem Abschiebelager eingesperrt wurden.

Denn die Deportation von „illegalen Migranten“ war doch seit je eine von Nawalnys zentralen Forderungen. Die unmenschlichen Haftbedingungen in diesem Deportationszentrum verleiten viele Medien zu einem KZ-Vergleich. Der Vergleich mit einem KZ ist mehr als eine bloße Redewendung. In dieser Metapher steckt eine Absolution, die man sich selbst erteilt: Die Besatzer sind schuld, wir haben damit nichts zu tun, wir sind bloß unschuldige Opfer. Wenn man nichts sehen will, drückt man seine Augen zu, bis sie bluten.

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