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: Der Teufel frisst Chrysanthemen

Omnibusfilme, also Filme, die aus in sich abgeschlossenen Kurzfilmen verschiedener Re­gis­seu­r*in­nen bestehen, sind Stiefkinder der Filmgeschichte. Meistens gehen sie auf den Einfall von Produzenten zurück, haben einen Titel oder ein Thema, das eher zueinanderzwingt, was von Stil, Temperament, Inhalt nicht zusammengehört. Das Kollektive, nach dem so ein Dreier- oder Viererpack erst einmal klingt, ist in der Regel nur Schein.

Je­de*r werkelt für sich, am Ende wird ein Ganzes daraus, das in seine Teile zerfällt. Das gilt noch für die wenigen Filme, die in Erinnerung bleiben, etwa „Ro.Go.Pa.G.“ von 1963, dessen Titel das Akronym der zu drei Vierteln noch heute berühmten Regisseursnamen ist: Rossellini, Godard, Pasolini, Gregoretti. (Aber: Who the fuck is Gregoretti?)

Ein Omnibusfilm genau dieser Art ist „Tokio!“ von 2008. Die Idee der japanischen Produzentin Michiko Yoshitake und ihres Kollegen Masa Sawada: Drei mehr oder minder renommierte, nichtjapanische Regisseure eine Geschichte, die in Tokio spielt, erzählen zu lassen. Das Geld kam aus Frankreich, Japan, Deutschland, Südkorea, eine nicht untypische internationale Euro-Asia-Pudding-Mischkalkulation. Der damals heißeste Name unter den drei Regisseuren war sicher Michel Gondry, der einstige Musikvideo-Star, der ein paar Jahre davor mit „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ als Spielfilmregisseur groß rausgekommen war.

Gondrys Stern ist seit damals gesunken. Sein Film ist der schwächste der drei, mit den Problemen, die Gondry-Filme gerne haben: Ein ins fantastische Register spielendes Motiv (eine Frau wird zu einem Holzstuhl – sic) entwickelt sich nach einer realistischen Einführung – Wohnungsnot in Tokio –, ohne dass sie allegorisch oder anderswie wirklich Sinn machen würde. Aus Gründen, die der Zuschauerin unklar bleiben, hat sich Gondry in eine spinnerte Idee verliebt, die auf den ersten Blick ganz reizend ist, auf den zweiten aber aus dem Nirgendwo kommt und ins Nirgendwo führt.

Überhaupt bekommt man im Abstand von dreizehn Jahren die Karriereverläufe der Beteiligten gut in den Blick. Der damals sicher Unbekannteste, Bong Joon-ho, dürfte nach seinem Oscar-gekrönten Megaerfolg „Parasite“ der Grund sein, dass der Film in Deutschland jetzt für die DVD-Veröffentlichung wieder ausgebuddelt worden ist. Er hatte damals gerade „The Host“ gedreht, toller Film, aber außerhalb Südkoreas über Cinephilenkreise hinaus nicht übermäßig beachtet. Bongs „Tokio!“-Episode erzählt eine Hikikomori-Liebesgeschichte, die zu Erdbeben führt und also Privates mit Geologischem verknüpft: nicht uninteressant, gekonnt inszeniert, aber nicht mehr als eine Fußnote im Werk des Regisseurs.

Der eigentliche Hammer aber ist „Merde“, der Film von Leos Carax („Die Liebenden von Pont Neuf“, „Holy Motors“). Carax hat ganz offen erzählt, dass er damals kein großes Projekt mehr finanziert bekam und deshalb die Chance, überhaupt was zu drehen, begierig ergriff. Seinen Fetischdarsteller Denis Lavant, seine Kamerafrau Caroline Champetier, nahm Carax einfach nach Tokio mit. Lavant taucht, ein Auge blind, wüste Frisur, rötlicher Ziegenbart, aus der Kanalisation auf, rennt Leute um, frisst Chrysanthemen, wirft Handgranaten: Er ist das Abjekte, oder der Teufel persönlich, der ihm dann als Anwaltdoppelgänger namens Volant (das ist der Name des Teufels in Bulgakows „Der Meister und Margharita“) aus Paris zu Hilfe eilt. Das klingt wüst, ist es auch, scheint erst albern, entwickelt, konsequent durchgezogen, aber enorme destruktive Wucht. Für dieses irre Teil hat sich das als Ganzes nicht sonderlich sinnreiche Projekt dann doch so richtig gelohnt.

Ekkehard Knörer

Tokio! (F/J/Südkorea/D 2008, Regie: Michel Gondry, Leos Carax, Bong Joon-ho). Die DVD ist im Handel ab rund 13 Euro erhältlich