Neutronenaktivität in Tschernobyl: Bewegung unter den Trümmern

Sensoren messen eine steigende Neutronenzahl im einst havarierten Reaktor von Tschernobyl. Was ist die Ursache dafür?

Gewaltige Halle aus Stahl und Beton in verlassener Gegend um den Reaktor von Tschernobyl

Irgendwo unter der Hülle des Sarkophags von Tschernobyl regt sich unerwartete Neutronentätigkeit Foto: ukrin/dpa

MÖNCHENGLADBACH taz | Es rumort im Inneren des vor 35 Jahren havarierten vierten Reaktors von Tschernobyl. Das meldet das US-Fachmedium Science auf seinem Portal Sciencemag.org. Dem Bericht zufolge haben Sensoren eine unerwartete, erhöhte Neutronenaktivität unter der 110 Meter hohen Schutzhülle gemessen. Wissenschaftler Maxim Saveliev vom ukrainischen Institut für Sicherheitsprobleme von Atomkraftwerken (ISPNPP) schließt einen weiteren Unfall in dem 1986 explodierten Reaktor nicht aus.

Eine Katastrophe wie damals befüchtet Saveliev nicht. Es könne zwar zu einem Einsturz von instabilen Teilen des über den Trümmern errichteten Sarkophags kommen, der offiziell seit 2016 von der zweiten Hülle überbaut ist, die tatsächlich erst seit 2018 funktionsfähig ist. Doch dank des immer noch langsamen Anstiegs der Neutronenanzahl – sie soll sich laut dem Magazin in den vergangenen 4 Jahren in etwa verdoppelt haben – habe man ein paar Jahre Zeit.

Derzeit befänden sich 170 Tonnen radioaktives Uran unter der Hülle, heißt es in dem Bericht. Bei der Havarie 1986 hatten sich Brennstäbe, Sand, Wasser und Beton zu einem lavaähnlichen Gemisch vereinigt, das in die Reaktorräume geflossen war, wo es im Lauf der Zeit zu einem sehr festen Stoff, Corium, verhärtete. Die AutorInnen des Berichts gehen aufgrund von ISPNPP-Versuchen davon aus, dass die Trockungsprozesse in diesem Corium für die erhöhte Neutronenaktivität verantwortlich sind.

„Ohne genau zu wissen, was nun die Ursache für den Anstieg der Neutronenzahl ist, ist offensichtlich, dass auch die neue Hülle das Problem nicht löst“, sagt Olexi Pasyuk, Direktor der ukrainischen Sektion von Bank Watch Network. Sie sei nicht gebaut worden, um Unfälle zu verhindern – das könne sie auch nicht. Vielmehr soll sie ermöglichen, dass der havarierte Reaktor mit möglichst geringen Auswirkungen auf die Umwelt rückgebaut werden kann.

Einhüllen reicht nicht

„Was mich an meisten beunruhigt, ist die Vorstellung, dass die Entscheidungsträger meinen könnten, mit der Hülle sei alles gut“, sagt Pasyuk. „Und dass sie sich deswegen nicht die Mühe machen, den Reaktor zerlegen zu lassen.“ Er hofft, dass die aktuellen Nachrichten noch einmal deutlich machen, wie notwendig der Rückbau und die Entsorgung des Reaktors sind.

Für den russischen Atomphysiker und AKW-Gegner Andrei Oscharowski wirft der Artikel des Wissenschaftsmagazins mehr Fragen auf, als er beantwortet. So sei unklar, wie man den Anstieg der Neutronenzahl gemessen habe. Man müsse dem aber unbedingt nachgehen. „Die internationale Gemeinschaft muss den havarierten Reaktor und die gesamte Sperrzone von Tschernobyl sehr genau beobachten“, so Oscharowski.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.