Sozialdrama „Milestone“ aus Indien: Jenseits von Bollywood

Im Netflix-Film „Milestone“ geht es um die Existenzsorgen eines alternden Truckers. Er zeigt, was das Indie-Kino aus Indien so stark macht.

Porträt des iindischen Schauspielers Suvinder Vicky

Fürchtet die eigene Abwrackung: Lkw-Fahrer Ghalib (Suvinder Vicky) im Netflix-Drama „Milestone“ Foto: Netflix

Lange unterwegs zu sein bedeutet nicht unbedingt, dass man vorankommt. Zumal in einem Riesenland wie Indien, zumal in einem Beruf wie dem des Lkw-Fahrers. Als „Trucker“ erlebte er im US-amerikanischen 70er-Jahre-Kino eine Ära der mythischen Aufladung, aber spätestens seit der neoliberale Begriff der „Logistics“ seine vernebelnde Schirmherrschaft über alles, was Warentransport ist, ausgebreitet hat, ist es damit vorbei.

Derlei Frustrationen und Abstiegserfahrungen meint man dem Fahrer Ghalib (Suvinder Vicky) direkt anzusehen, wie er da an einem kalten Morgen im Norden Indiens vom Fahrersitz heruntersteigt, übernächtigt und mit steifen Gliedern, seufzend hinnehmend, dass die Lade-Arbeiter immer noch im Streik sind. Er muss also selbst mit Hand anlegen, aber da fährt es ihm erst recht in den Rücken.

Den raren Rekord, den er kurz darauf attestiert bekommt, mit 500.000 Kilometern der nun weitgefahrenste Fahrer des Betriebs zu sein, kann er darum nicht recht genießen. Sicher, seine Chefs sprechen ihm ihr Vertrauen aus, aber als ein gleichaltriger Kollege entlassen wird, der wegen Nachtblindheit nur noch beschränkt einsatzfähig war, und man ihm am Tag danach einen „Praktikanten“ ins Fahrzeug setzt, wird Ghalib misstrauisch. Er beginnt um seinen Job zu fürchten.

So beschrieben, klingt alles danach, als sei mit Ivan Ayrs „Mile­stone“ das sozialrealistische Drama à la Ken Loach nun auch in Indien angekommen. Aber das wäre zugleich eine Unterschätzung dessen, was als „indisches Indie-Kino“ sich langsam den Weg zu den großen Filmfestivals ebnet.

Geerdete Filmhandlung

„Milestone“ feierte letztes Jahr in Venedig in der Nebensektion „Orizzonti“ Premiere und machte zusammen mit Chaitanya Tamhanes Wettbewerbsbeitrag „The Disciple“ kraftvoll darauf aufmerksam, dass es in Indien eine produktive Filmkultur jenseits von Bollywood gibt.

So dankbar man ist, dass „Mile­stone“ jetzt auf Netflix zu streamen ist, so sehr hätte man diesem Film auch einen Kinostart gewünscht. Denn was Ayr mit seiner stoischen Gestalt des alternden Trucker im Zentrum erschafft, ist weit mehr als feingetunter Realismus mit Empathie für die Erniedrigten und Beleidigten dieser Welt.

Ayr evoziert Stimmungen und Atmosphäre; das fahle Licht eines Wintermorgens über den unwirtlichen Ecken eines Lkw-Parkplatzes schlägt da plötzlich um in Poesie; der einsetzende Regen auf der Windschutzscheibe wird zur Metapher von Gefühlen, die in Fluss geraten.

Gleichzeitig bleibt die filmische Handlung vollkommen geerdet in der verhältnismäßig engen Wirklichkeit des Helden Ghalib, eines Mannes, der schon einiges erlebt hat und weiß, dass „schlechte Zeiten, genau wie die guten“, auch wieder vorübergehen.

Netz zwischen den Schichten und Milieus

Ivan Ayr hat seinen Helden mit Bedacht gewählt. Es zeigt sich, dass eine Figur wie Ghalib eine ideale Figur ist, um ein Bild der Gegenwart des heutigen Indiens zu zeichnen. Als Lkw-Fahrer steht er nicht nur für das Unterwegssein, für das Netz zwischen den Schichten und Milieus, sondern verrkörpert den Übergang vom Land zur Stadt mitsamt seiner Verwerfungen am eigenen Leib.

„Milestone“. Regie: Ivan Ayr. Mit Suvinder Vicky, Lakshvir Saran u. a. Indien 2020, 97 Min. Läuft auf Netflix

Er habe auf Wunsch seiner Frau seinen familiären „Palast“ auf dem Dorf gegen eine enge Stadtwohnung eingetauscht, hört man Ghalib sich an einer Stelle rechtfertigen. Seine Frau hat sich wenige Monate zuvor umgebracht, aus Bedrückung auch über die Einsamkeit, in der sie Ghalibs jobbedingte Abwesenheit mehr und mehr zurückließ. Nun muss er sich in seinem Heimatdorf einer Zivilverhandlung vor dem Ältestenrat stellen, da die Familie seiner Frau eine Kompensation fordert.

Suvinder Vicky spielt den von Schicksalsschlägen Gebeutelten mit der stoischen Ruhe eines Mannes, der sich selbst gut genug kennt, um zu wissen, dass Aufgeben keine Alternative ist. Er schleppt sich weiter, auch als sich in seinem Haus die Nachbarn lautstark darüber aufregen, dass der Fahrstuhl nicht repariert wird, auch als zum wiederholten Mal niemand da ist, um beim Ein- und Ausladen zu helfen, auch als die Familie sein Kompensationsangebot ablehnt.

Mit schmerzendem Rücken geht er seiner Wege, sucht Lösungen, erträgt die patriarchale Pseudogroßzügigkeit der Bosse und Verwalter, die seine Zuverlässigkeit und Erfahrung loben und doch seine Gefügigkeit meinen. Den jungen Praktikanten, den er als Konkurrenten betrachtet, will er eigentlich vergraulen, tut es aber so halbherzig, dass nichts daraus wird.

Dem depressiven Ton seiner präzisen Sozialstudie setzt Filmemacher Ayr sein aufmerksames Auge für Details entgegen. Die feinen Verhaltensunterschiede zwischen dem Vater-Sohn-Paar, dem Ghalibs Fuhrpark gehört; der rebellische Furor des Gewerkschaftlers, der den Lade-Arbeiterstreik anführt; die emanzipierte Sanftheit der Nachbarin, die Ghalib von der Traurigkeit seiner Frau erzählt – keine Figur wird auf ihre bloßes Milieu reduziert, hinter allen scheint eine Komplexität auf, die es zu entdecken gilt. Her mit mehr indischem Indie-Kino!

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