Der Realist der Zerrissenheit

Zum 50. Todestag des Philosophen Georg Lukács

Georg Lukács wollte als Philosoph die Arbeiterklasse befreien, analysierte den Prozess der Verding­lichung des Menschen und fiel nach dem ungarischen Aufstand von 1956 in Ungnade. Derzeit wird er wieder­­entdeckt Foto: Fausto Giaccone/contrasto/laif

Ein Denker zwischen Philosophie und Partei über die Untiefen der Moderne

Ich bin ein taz-Blindtext. Von Geburt an. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein

Von Axel Honneth

Georg Lukács, der einzige Marxist, der zugleich ein Philosoph von Weltrang war, wurde 1885 als Sohn einer wohlhabenden Familie jüdischen Glaubens in Budapest geboren. Hochbegabt und mit einem außergewöhnlichen Talent sowohl für künstlerische Belange wie für philosophische Fragestellungen ausgestattet, übernahm er schon mit jungen Jahren in den intellektuellen Zirkeln seiner Heimatstadt eine führende Rolle. Seine Gedanken kreisten nach der mit nur 21 Jahren abgeschlossenen Promotion zunächst vor allem um die Frage, mit welchen Mitteln die Kunst zur Lösung der kulturellen Krise der Zeit beitragen könnte.

Dieser frühen Phase seines Schaffens verdanken sich bereits eine Reihe von Werken, die aus der europäischen Geistesgeschichte heute kaum mehr wegzudenken sind: In „Die Seele und die Formen“ sind Essays versammelt, die in nahezu existenzialistischer Weise das zeitgenössische Missverhältnis zwischen innerem Empfinden und kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten behandeln, die zweibändige „Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas“ geht der wachsenden Schwierigkeit nach, die psychischen Untiefen des modernen Subjekts weiterhin mit theatralischen Mitteln zu vergegenwärtigen.

Verraten diese Werke noch die intellektuellen Suchbewegungen eines nicht einmal Dreißigjährigen, so gelingt dem jungen Lukács der theoretische Durchbruch erst mit dem Buch „Die Theorie des Romans“; darin wird in ingeniöser Weise der Roman als das literarische Mittel beschrieben, das wie kein anderes dazu in der Lage ist, die „transzendentale Obdachlosigkeit“ der jeder sozialen Bindung verlustig gegangenen Subjekte in der kapitalistischen Moderne erzählerisch zu veranschaulichen.

Nur wenige Jahre später war aus dem Autor dieses schnell zum Klassiker der Literaturtheorie avancierten Buchs ein ganz anderer geworden. Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs trat Georg Lukács der kommunistischen Partei Ungarns bei, beging mithin das, was er immer wieder als „Klassenverrat“ bezeichnet hat, und verwandelte sich damit in einen Philosophen mit der welthistorischen Mission der Befreiung der Arbeiterklasse.

Die Abhandlungen, in denen er in den folgenden Jahren diesen intellektuellen Stellungswechsel gerechtfertigt hat, gehören zum Besten, was die Geschichte des Marxismus an theoretischen Leistungen hervorgebracht hat: In dem Aufsatzband „Taktik und Ethik“ wird mit ungeheurem Rigorismus die moralische Frage aufgeworfen, welche ethischen Prinzipien den Kampf für die Errichtung einer proletarischen Diktatur legitimieren könnten, im Zentrum der legendären Aufsatzsammlung „Geschichte und Klassenbewusstsein“ steht mit der Abhandlung zur Verdinglichung eine Studie, welche die kühl-berechnende Lebensform der Moderne auf die Verhaltenszwänge des kapitalistischen Warentauschs zurückführt und das Proletariat als Retter aus der allgemeinen Lebensnot präsentiert. Ohne diesen einen abgründig-spekulativen Aufsatz, der den Deutschen Idealismus mit gedanklichen Elementen von Marx, Simmel und Weber verknüpft, hätte es, so darf man vermuten, keinen westlichen Marxismus, ja keine Frankfurter Schule gegeben – trotz aller Kritik, die Adorno später an Lukács geübt hat.

Je entschiedener Lukács sich seit Beginn der 1930er Jahre der kommunistischen Bewegung verpflichtet sah, desto mehr spaltete sich nun sein Leben in die beiden Rollen des Parteifunktionärs einerseits, des marxistischen Gelehrten andererseits: Die eine Hälfte des Tages ist er mit der Organisation des Abwehrkampfs gegen den deutschen Nationalsozialismus beschäftigt, die andere Hälfte verbringt er in Bibliotheken, um Studien zur marxistischen Theorie, zum jungen Hegel und zur Literaturgeschichte zu verfassen. Auch in dieser Zeit macht er aus seinem Herzen keine Mördergrube, sondern gibt offenherzig die Motive für seine zerrissene Daseinsform zu erkennen: Die aktive Parteinahme für die Sowjetunion Stalins, deren Opfer er selbst einmal zu werden drohte, rechtfertigt er mit der Notwendigkeit des Kampfs gegen den Faschismus, die Fortsetzung seiner theoretischen Bemühungen inmitten der Parteiarbeit begründet er mit der intellektuellen Pflicht, die marxistische Theorie weiterzuentwickeln.

Nicht alles, was in diesem Zeitraum an Werken entsteht, ist so stark vom offiziellen Parteijargon durchzogen, dass es ohne Wert für die intellektuelle Nachwelt geblieben wäre; die Studie „Der junge Hegel“ gehört bis heute zu den verdienstvollsten Beiträgen zur philosophischen Entwicklung Hegels, die Schriften zur Literatur­theo­rie glänzen trotz ihrer verbissenen Verteidigung des Realismus durch Materialfülle und Detailkenntnisse.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs änderte sich für Lukács noch einmal vieles. Er wird zunächst zum Repräsentanten des sowjetisch geprägten Marxismus im Westen, beschäftigt sich mit Vorarbeiten zu einer groß angelegten Ästhetik und wird mit Preisen und Ehrendoktorwürden überhäuft, bevor er im sowjetischen Machtblock aufgrund seiner Parteinahme für den ungarischen Aufstand im Jahr 1956 in Ungnade zu fallen beginnt. Der Rückzug an den eigenen Schreibtisch, den diese Ächtung erzwingt, kommt der Entwicklung des Werks wiederum zugute; ohne Unterlass arbeitet der inzwischen über 70 Jahre alte Lukács nun an seiner „Ästhetik“ und entwirft Vorstudien zu einer „Ontologie“, die zur Aufgabe seiner letzten Lebensjahre werden sollte.

Seine Kritik am sowjetischem Machtsystem tut er inzwischen unverhohlen kund, in Interviews plädiert er für eine Rätedemokratie und gleichzeitig versammelt er einen Kreis von regimekritischen Schü­le­r*in­nen um sich. Als er am 4. Juni 1971 stirbt, hinterlässt Lu­kács eine unvollendet gebliebene „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“, über deren theoretischen Wert für die Aktualisierung des Marxismus bis heute unter seinen Anhängern gestritten wird.

Der Autor ist Jack C. Weinstein Professor for the Humanities an der Columbia University in New York.

Neu entdeckt und unsichtbar gemacht – eine kleine Rezeptionsgeschichte

Von Rüdiger Dannemann

Die Wirkungsgeschichte von Georg Lukács war schon immer eine Historie voller Paradoxien und Widersprüche. Nicht selten fand er Zuspruch fürWerke, von denen er sich längst losgesagt hatte. Als seine „Theorie des Romans“ endlich als Buch erschien, hatte er sich schon von diesem bahnbrechenden Frühwerk verabschiedet. Und als ihn Rudi Dutschke in Budapest aufsuchte, arbeitete der verehrte Autor von „Geschichte und Klassenbewußtsein“ bereits an seiner „Ontologie“.

Wie Lukács’eigenes Leben ist die postume Wirkungsgeschichte im vergangenen halben Jahrhundert voller Höhen, Abstürze, Renaissancen. Will man sich ihr annähern, empfiehlt sich eine Einteilung in mindestens drei Perioden: Die erste kann man auf die Jahre von 1971 bis 1989 ansetzen, die zweite auf die Jahre nach dem Kollaps des „realen Sozialismus“. Die letzte beginnt im zweiten Jahrzehnt unseres 21. Jahrhunderts.

Phase eins deutete auf einen für einen Klassiker typischen Umgang. Es galt den Nachlass des bedeutenden Denkers zu sichten und zu publizieren. Im Fall des großen Spätwerks „Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins“ dauerte das bis 1984 beziehungsweise 1986. Schon Mitte der 70er Jahre konnten die im berühmten Heidelberger Koffer deponierten frühen ästhetischen Schriften erscheinen. Die Werkausgabe wuchs über den geplanten Umfang weit hinaus. In diesem goldenen Zeitalter der Lukács-Forschung erlebte auch das Budapester Lukács-Archiv seine produktivsten Jahre. Es publizierte das „Napló – Tagebuch (1910–11)“, die „Dostojewski-Notizen“ sowie die im russischen Exil entstandenen Vorarbeiten zur „Zerstörung der Vernunft“ sowie Lukács’„Briefwechsel 1902–1917“, ein Zeugnis der Briefkultur dieser Zeit. Eine Reihe von Klassikern der Lukács-Literatur erschien weltweit, so etwa Goldmanns Buch über Lukács und Hei­deg­ger, Löwys Studie zum romantischen Kapitalismus oder Feen­bergs Freilegung des Einflusses auf die Kritische Theorie. In seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ würdigte Habermas Lukács’bahnbrechende Leistung, den neuzeitlichen Prozess der Rationalisierung als Verdinglichungsgeschichte erfasst zu haben. Die Konturen von Lukács’eigenem philosophischen Ansatz, die Althussers Rubrizierung als Hegelmarxismus unzureichend beschrieb, wurden kenntlicher.

Den Gipfel erreichte diese Rezeption 1985, als der 100. Geburtstag von Lukács und Bloch zu feiern war. Es gab internationale Kolloquien weltweit. Selbst in der DDR begann eine Annäherung an den seit 1956 Verfemten. Die geplante Veröffentlichung von Lukács’politischem rätedemokratisch inspirierten Testament „Sozialismus heute und morgen“ wurde aber nicht mehr realisiert.

Auf den Höhepunkt folgte der Absturz. Luchterhand stellte die große Werkausgabe ein – trotz internationaler Unmutsbekundungen. Nach 1989 schien Lu­kács zusammen mit Marx in das Reich der Vergessenheit verbannt. Selbst die ehemaligen Mitglieder von Lukács’Budapester Schule, inzwischen aus ihrem Heimatland vertrieben, distanzierten sich. In dieser Konstellation wurde 1996 die Internationale Georg-Lukács-Gesellschaft gegründet. Dass sein Werk nicht ganz aus dem Blick geriet, verdankte sich dem Engagement unverbesserlicher Lu­kácsia­ner wie Thomas Metscher, Guido Oldrini, Nicole Tertulian sowie dem sehr akademischen Interesse an den Heidelberger Schriften.

Diese Phase endete nach dem Millennium, als die Rede vom „Ende der Geschichte“ fragwürdig wurde. Mit dem neu erwachenden Interesse an Marx und Post-Marxismus geriet auch Lu­kács’Werk wieder ins Blickfeld. 2000 erschien die englischsprachige Ausgabe von „Chvostismus und Dialektik“, Lukács’Verteidigungsschrift von „Geschichte und Klassenbewußtsein“, mit einem Nachwort von Ži­žek. Ein paar Jahre später fand Axel Honneths Studie „Verdinglichung“ internationale Beachtung. Die Zahl der Publika­tio­nen zu Lukács wuchs merklich, die Werkausgabe wurde fortgesetzt, 2009 auch mit der Reihe Werkausgabe in Einzelbänden. Inzwischen kann man von einer „kleinen Lu­kács-­Renaissance“ sprechen, die sich nicht auf den europäischen und nordamerikanischen Raum beschränkt. Neue Zentren der Lukács-Rezeption entstehen in Lateinamerika und in China. In der postmaoistischen Volksrepublik entdeckt man den heuristischen Wert der Verdinglichungstheorie und plant großangelegte Werkausgaben.

Befremdlich ist vor diesem Hintergrund, was in der Heimat des Philosophen mit seinem Werk geschieht. Es gibt dennoch keinen Grund, in Resignation zu verfallen. Die auf die Schließung des Lukács-Archivs folgenden weltweiten Proteste und die große Lukács-Konferenz 2017 in Budapest festigen den Eindruck: Lukács ist, wie immer man zu ihm stehen mag, zu einem Klassiker geworden. Das Aktualisierungspotenzial seiner Verdinglichungstheorie für Auswege aus unserer nicht nur ökonomischen Krisenzeit scheint längst noch nicht ausgeschöpft.

Der Autor ist Philosoph und Vorsitzender der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft.

Gemeinsam haben die Autoren im Suhrkamp Verlag gerade einen Band mit Texten von Georg Lukács herausgegeben: Georg Lukács: „Ästhetik, Marxismus, Ontologie“.