Nach der Entführung Protassewitschs: Mit dem Herzen in der Heimat

Unsere Autorin floh vor dem Regime Lukaschenkos. Über Belarus schreibt sie weiter, obwohl es kaum mehr auszuhalten ist.

Eine Menschengruppe, die wartet

Jour­na­lis­t*in­nen und belarussische Ak­ti­vis­t*in­nen warten am Flughafen von Vilnius Foto: Mindaugas Kulbis AP

VILNIUS taz | Bis vor Kurzem dachte ich noch, dass die langjährige journalistische Beschäftigung mit der politischen Situation in Belarus zu einer Art déformation professionelle führen würde, bei der selbst die allerschlimmsten Nachrichten einfach absolut keine emotionale Reaktion mehr hervorrufen könnten.

So war es jedenfalls bisher: Jahrelang zu Gerichtsterminen gegangen, wo die unglaublichsten Dinge passiert sind, absolut unfaire Urteile gesprochen wurden und noch nicht einmal rechtskräftig verurteilte Menschen schon von Sicherheitskräften in Gefangenentransportern erwartet wurden, weil bereits vorher klar war, dass diese Leute hinter Gittern landen. Danach habe ich mich völlig ruhig an den Rechner gesetzt und das Vorgefallene aufgeschrieben.

Nach den Ereignissen vom August 2020 in Belarus musste ich das Land verlassen, um nicht selbst ins Gefängnis zu kommen. In meiner neuen Heimat Vilnius gibt es viele solcher „Wiederholungstäter“, die wegen ihrer politischen oder journalistischen Arbeit verfolgt wurden und fliehen mussten. Mit einigen von ihnen arbeite ich jetzt in dem Projekt Malanka Media, wo wir die Vorgänge in Belarus näher untersuchen. Aber ach, aus der Ferne. Weil wir nicht die Möglichkeit haben, vor Ort zu recherchieren, wie wir das gewohnt waren.

Am Anfang war dieser Nachrichtenjob wie früher auch: emotionslos. In deinem Land bringen sie Menschen um, niemand bestraft die Schuldigen, es gibt schon fast 500 politische Gefangene, darunter viele gute Bekannte. Aber die Gefühle haben bei meiner Arbeit bislang nie die Oberhand gewonnen. Dabei hat es mich nicht einmal erstaunt, wenn neue Kolleg*innen, die bislang gar nicht auf diesem Gebiet gearbeitet hatten, nach einigen Monaten völlig ausgebrannt waren und sich einfach weigerten, weiterzumachen, weil das alles psychisch nicht mehr auszuhalten war.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Aber erst vor relativ kurzer Zeit habe ich begriffen, dass es unmöglich ist, die eigene Empathie gänzlich außen vor zu lassen, nur um einen guten Job zu machen. Das war, als Belarus es wieder in die internationalen Schlagzeilen schaffte wegen der Geschichte mit dem entführten Ryanair-Flugzeug. Mein Land wurde von einem Moment zum anderen für die zivilisierte Welt zu einem Sperrgebiet, in dem es keinerlei Anzeichen von Legalität und Menschenrechten mehr zu geben schien.

Ich erinnere kurz daran, dass dies eine Geschichte darüber ist, wie ein Diktator, der schon 27 Jahre sein Land im Zentrum Europas tyrannisiert, beschloss, ein Flugzeug einer europäischen Airline zu jagen, nachdem er erfahren hatte, dass in diesem Flugzeug einer der Hauptfeinde des Regimes den belarussischen Luftraum durchquert – der Journalist und Blogger Roman Protassewitsch.

Roman ist, genau wie ich, ein politischer Emigrant. Er lebte schon lange in Vilnius, wohin er jetzt nach einem Urlaub in Athen auch gerade zurückwollte.

Wir haben in der Vilniusser Diaspora viele gemeinsame Bekannte, und noch bevor diese Nachricht überhaupt öffentlich wurde, erfuhr ich durch sie, was passiert war. Die Gefühle, die ich seitdem durchlebt habe, kann man schwer mit Worten beschreiben. Es war so ähnlich wie ein völlig verrückter „Murmeltiertag“, denn erst am Abend zuvor hatte ich gehört, dass in einem belarussischen Gefängnis der demokratische Aktivist Witold Aschurok gestorben war. Ich erinnere mich gut an diesen schönen, lebensfrohen Menschen, den ich von den Protestdemos kannte, über die ich berichtet hatte. Er wurde nur 50 Jahre alt und hatte nie gesundheitliche Probleme gehabt.

„Sie haben ihn umgebracht“, dachte ich, als ich von Aschuroks Tod erfuhr. Und: „Sie bringen ihn um“, dachte ich, als ich hörte, was mit Roman passiert war. Das ist absolut keine emotionale Übertreibung, sondern die Realität des Landes im Zentrum Europas, wo ein irrer Tyrann sich für Gott und Herrscher über menschliche Schicksale hält.

Alle Be­la­rus­s*in­nen in Vilnius haben sofort heftig auf diese neuesten Entwicklungen reagiert. Denn egal, wo du auch bist, dein Herz ist in der Heimat, deren beste Menschen jetzt in Gefängnissen gefoltert werden oder emigrieren mussten. Oder tot sind.

Litauen, das uns zur zweiten Heimat geworden ist, teilt diesen Schmerz mit uns. Zu der Versammlung vor der belarussischen Botschaft an dem Tag, als Roman der nächste Gefangene des Diktators wurde, versammelten sich Dutzende Menschen, darunter auch litauische Po­li­tiker*innen, die gekommen waren, um die Be­la­rus­s*in­nen zu unterstützen. Durch den Zaun flogen Papierflieger auf das Gelände der Botschaft. Darauf standen Worte zu Romans Unterstützung und die Forderung nach Freilassung des Journalisten und aller politischer Gefangener. Eine symbolische Aktion – das ist alles, was man zurzeit tun kann, wenn man sich fern der Heimat befindet. Und das kann einen schon sehr verbittern.

Später war ich auf dem Flughafen von Vilnius, wo ich zusammen mit Menschen aus der belarussischen Diaspora und Jour­na­lis­t*in­nen aus der ganzen Welt viele Stunden auf die Ankunft des entführten Flugzeuges gewartet habe.

Unter den Wartenden waren viele, die Roman Protassewitsch persönlich kennen. Die Leute waren wie hinter Glas und konnten die Ereignisse gar nicht richtig realisieren oder gar glauben. Ein schreckliches Gefühl, in einem freien Land zu stehen, in Sicherheit, und zu verstehen, dass im selben Moment dein naher Freund oder Bekannter sich in den Händen von Spezialkräften befindet, die Andersdenkende wie am Fließband foltern.

Der leere Blick

Wobei: Das Schlimmste, was passieren kann, ist nicht mal die rein physische Gewalt und nicht der Tod. Wilde Experimente, die die KGB-Mitarbeiter*innen an der Psyche des Menschen durchführen, verändern ihn für immer, es bleibt nur die Hülle, ohne Wille zum Handeln. Mehr als einmal habe ich Menschen in die Augen geschaut, die das durchlitten haben – man kann sich nichts Schlimmeres vorstellen als diese klingende Leere dort, wo früher die Flamme des Nonkonformismus und des freien Geistes gelodert hat.

Den unbeug­samen Willen zur Freiheit kann man nur phy­sisch brechen, und das tun Lukaschenkos Verbrecher

„Staatlicher Terrorismus“ – das hatte vermutlich jeder im Kopf, der gekommen war, um auf das von Lukaschenko entführte Flugzeug zu warten. „Es war, als sei man wieder in der Sowjetunion“, sagte einer der Passagiere, ein älterer Litauer. Die Menschen waren tatsächlich durch den Eisernen Vorhang zurückgekommen, waren unglaublich emotionalem Stress ausgesetzt und waren noch gar nicht in der Lage, alle Gefühle auszudrücken, die sie in den Stunden zuvor durchlebt hatten. Und einige waren erst gar nicht in Vilnius angekommen.

Und dann veröffentlichten die belarussischen Sicherheitskräfte Videoaufnahmen von Roman Protassewitsch. Sie wirkten wie irre Kinoszenen von gefangenen Terrorist*innen. In seinen Augen war diese Leere. Roman ist ein weiteres Opfer des zynischen Verbrechens gegen die Menschlichkeit, das es nicht geben dürfte. Und dann kam noch der Schlussakkord: ein Video der letzten Minuten im Leben von Witold Aschurok, mit dem das Untersuchungskomitee von Belarus zeigen wollte, dass niemand politische Häftlinge foltere, sondern dass ein Mensch einfach nur krank geworden war und es ihm schlecht ging.

Man kann nur schäumen vor Wut, wenn man dieses Video sieht: Ein noch recht junger Mann, der vor Kurzem noch seine Mitstreiter angelächelt hatte, als er das absurde Urteil – fünf Jahre Haft für die Teilnahme an Protesten – erhielt, und der bereit war, alles zu ertragen, was ihm an Ungerechtigkeit widerfuhr, stand ganz allein in einer Isolationszelle. Und dann kippte er plötzlich nach vorne. Einmal, ein zweites Mal. Niemand stand neben ihm. Es war ihm nicht gestattet, sich hinzusetzen oder hinzulegen. Man hatte ihn so verspottet und verhöhnt, dass sogar ein solch kräftiger Organismus nicht länger durchhalten konnte. Witolds Leiche wurde seinen Angehörigen in einem schrecklichen Zustand übergeben, er hatte praktisch keine Augen mehr und furchtbar geschwollene Hände. Den unbeugsamen Willen zur Freiheit kann man nur physisch brechen – und genau das tun Lukaschenkos Verbrecher.

Ich würde furchtbar gerne mal eine Auszeit nehmen, um wieder zu mir zu kommen, um in die frühere neutrale déformation professionelle zurückzufinden.

Absurde Verurteilungen

Aber dann ist noch etwas passiert, wodurch ich wieder zur Besinnung gekommen bin: Diese Woche wurde Pawel Sewerinez in Belarus zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Pawel Sewerinez, den ich schon so lange kenne und den ich als Vorbild an wahrer Geistesstärke bewundere. Er hätte gar nicht tun können, wofür man ihn beschuldigt und angeklagt hatte, nämlich die Proteste im August 2020 zu organisieren, und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie ihn schon lange vorher verhaftet hatten. Aber das war dem Gericht völlig egal. Nach der Urteilsverkündung hatte Pawel gelächelt und allen, die zu seiner Unterstützung gekommen waren, auf Belarussisch zugerufen: „Wir glauben! Wir können! Wir werden siegen!“

Alle, die Pawel kennen, fluteten die sozialen Netzwerke mit Worten der Empörung und drückten seiner Familie ihr Mitgefühl aus. Und daraufhin schrieb seine Frau Olga auf Face­book: „Freunde, warum weint und klagt ihr? Seht doch, was ich für einen coolen Ehemann habe. Und Belarus wird frei sein!“ Goldene Worte einer starken belarussischen Frau.

Ich glaube daran, dass es irgendwann so sein wird, und arbeite weiter, trotz alledem.

Aus dem Russischen: Gaby Coldewey

Alexandrina Glagoljewa, die Autorin, hat im November 2019 an einem Osteuropa-Workshop der taz Panter Stiftung in Berlin teilgenommen.

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Mehr Geschichten über das Leben in Belarus: In der Kolumne „Notizen aus Belarus“ berichten Janka Belarus und Olga Deksnis über stürmische Zeiten – auf Deutsch und auf Russisch.

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