Denn sie wissen nicht, was sie tun

Die schwedische Thrillerserie „Kalifat“ ist eine Perle, die sich zu entdecken lohnt. Sie erzählt von Frauen, die zu allem entschlossen sind. Insbesondere vor dem IS schrecken sie nicht zurück

Das Ende der Staffel lässt so viele Fragen offen, dass die Not-wendigkeit einer Fortsetzung klar ist

Von Katharina Granzin

In den Tiefen des Amüsierangebots von Netflix gibt es manchmal Perlen, die wie alle echten Perlen erst ertaucht werden müssen. Dazu gehört die vom schwedischen Fernsehen produzierte Serie „Kalifat“. Er habe die Idee dazu gehabt, so der Drehbuchautor Wilhelm Behrman, als er in den Medien Bilder von drei britischen Teenagern sah, jungen Mädchen, die von zu Hause ausgerissen waren, um zum IS nach Syrien zu fahren. Das habe ihn stark angefasst: „Ich habe eine Tochter genau im selben Alter.“

Fast alle Hauptrollen in „Kalifat“ sind mit Frauen besetzt. Das ist nicht selbstverständlich für eine Thrillerserie. Und vor allem ist es überhaupt ein kluger Schachzug, aus dem Thema „junge Frauen fühlen sich der Mehrheitsgesellschaft nicht zugehörig und werden vom radikalen Islamismus angezogen“, das auf den ersten Blick nach einer Umsetzung als Sozialdrama schreit, einen Thriller zu machen. Zwischen zwei Schauplätzen, zum einen Stockholm, zum anderen Raqqa, der zeitweiligen „Hauptstadt“ des IS (die Handlung spielt im Jahr 2015), entwickelt sich eine ungemein spannende Handlung in acht Folgen, die regelmäßig mit einem Cliffhanger enden.

Erzählt wird aus vier verschiedenen Perspektiven. Die wichtigste ist dabei die von Pervin, einer jungen Frau in den Zwanzigern und Mutter einer kleinen Tochter. Sie ist in einem Vorort von Stockholm aufgewachsen und mit ihrem Mann Husam vor einiger Zeit nach Raqqa gezogen, aus Überzeugung. Doch nun beginnen sie Zweifel zu quälen. Eines Tages kommt Pervin zufällig in den Besitz eines Mobiltelefons, das sie vor Husam versteckt. Heimlich kontaktiert sie die Sozialarbeiterin ihrer einstigen Schule in Stockholm und bittet sie um Hilfe: Pervin möchte zurück nach Hause, doch nicht einmal ihr Mann darf davon wissen.

Da kommt Fatima ins Spiel, eine ehrgeizige Mitarbeiterin des schwedischen Geheimdienstes Säpo, die von der Schulsozialarbeiterin ins Vertrauen gezogen wird. Fatima wittert die Chance auf einen großen Coup und zwingt Pervin zu einem Gegengeschäft: Informationen über IS-Operationen gegen Hilfe bei der Heimreise. Ab nun ist Pervin Undercover-Agentin im eigenen Haushalt und entdeckt tatsächlich Anzeichen dafür, dass die Gruppe schwedischer IS-Terroristen, der ihr Mann angehört, einen größeren Anschlag in Schweden plant.

Und während die verzweifelte Pervin wirklich alles täte, um endlich zurück nach Stockholm zu kommen, und dabei zunehmend entschlossen vorgeht, zieht es andere junge Frauen in die Gegenrichtung: Die Teenager Sulle und Kerima geraten an ihrer Schule in den Einflussbereich des ziemlich coolen Sozialarbeiters Ibbe, der sie in der Ablehnung ihrer schwedischen Umgebung bestärkt und die Mädchen behutsam mit islamistischer Propaganda füttert. Doch Ibbe hat nicht nur vor, die Teenager als IS-Ehefrauen nach Raqqa zu locken, sondern ist auch in weit größere Operationen involviert.

Es ist ein Geflecht widerstreitender Interessenlagen und Gefühle, in dem alle Agierenden gefangen sind. Wer gut und was böse ist, ist dabei mit fortschreitender Handlung immer schwieriger zu definieren. Auch die in einer Zwangslage steckende Pervin muss, um ihre Ziele zu erreichen, extreme Dinge tun. Die zu Alleingängen neigende Geheimagentin Fatima hat ohnehin wenig Skrupel, wenn sie sich in eine Sache verbissen hat, und erschrickt erst im Nachhinein über die Konsequenzen ihrer Kompromisslosigkeit.

Die rebellierende Pubertandin Sulle wiederum würde man nicht mal geschenkt zur Tochter haben wollen. Und doch reagiert ihr verzweifelter Vater definitiv über, als er nach Patriarchenmanier bestimmt, das Kind müsse dann eben zwangsweise wegverheiratet werden, um es unter Kontrolle zu kriegen.

Dieses Durcheinander menschlicher Schwächen und Wünsche hat echte tragische Qualitäten, die Charaktere haben Ecken und Kanten an den richtigen Stellen, und die DarstellerInnen sind großartig. Von den vier Hauptfiguren ist der einzige Mann, Ibbe, auch der Einzige, der qua Drehbuch als Charakter unterbelichtet bleibt und nicht hundertprozentig glaubwürdig ist. Woher kommt sein Hass auf die schwedische Mehrheitsgesellschaft? Wie hat er es geschafft, den strategisch wichtigen Posten als Sozialarbeiter zu ergattern? Obwohl Ibbe eine der Schlüsselfiguren ist, erfährt man praktisch nichts über seinen Hintergrund. Dieses Versäumnis ließe sich unter Umständen dadurch entschuldigen, dass all diese Dinge ja in einer nächsten Staffel aufgeklärt werden könnten.

Die Drehbuchautoren Wilhelm Behrman und Niklas Rockström gaben sich in einem Interview für die Website des Nordisk Film & TV Fond allerdings abwartend. Es mache mehr Spaß, neue Sachen zu entwickeln, als zweite Staffeln zu schreiben, sagt Behrman da. Eine möglicherweise nur strategische Aussage im Hinblick auf noch zu führende Honorarverhandlungen? Denn das Ende von „Kalifat“, Staffel 1, lässt so viele Fragen offen, dass die Notwendigkeit einer Fortsetzung implizit schon darin eingeschrieben ist.

„Kalifat“. Regie: Goran Kapeta­no­vić. Läuft auf Netflix.