Gedenken ist in Hongkong jetzt Straftat

Das Gedenken an das Pekinger Tiananmen-Massaker hat in Hongkong jedes Jahr Zehntausende mobilisiert. Doch jetzt drohen dafür bis zu fünf Jahre Gefängnis

Die Nennung des 4. Juni ist zu heikel, deshalb wurde der 35. Mai erfunden Foto: Nora Tam/Zuma/imago

Aus Peking Fabian Kretschmer

Wie ernst Hongkongs Behörden ihre Null-Toleranz-Politik meinen, zeigt der Fall Alexandra Wong: Die 65-Jährige – innerhalb der Protestbewegung eine lokale Berühmtheit – ist am Montag zum chinesischen Verbindungsbüro aufgebrochen, um des Tiananmen-Massakers vor 32 Jahren zu gedenken. „Ich bin doch nur alleine hier, eine alte Frau. Wieso halten Sie mich an?“, soll sie laut Medienberichten Polizisten gesagt haben. Wenig später war „Großmutter Wong“ verhaftet. Der Strafbestand: „Nicht autorisierte Versammlung.“

Dieses Jahr ist ein Wendepunkt in Hongkongs kollektiver Erinnerungskultur. Zwar sind auf dem chinesischen Festland schon seit damals sämtliche Informationen über die Pekinger Studentenproteste von 1989 ausradiert: in den kontrollierten Medien, Online-Enzyklopädien und sozialen Medien. Doch im bis 1997 britischen Hongkong gab es weiterhin die Tradition des Gedenkens: Zehntausende Bewohner der Finanzmetropole zogen bis 2019 jeden 4. Juni mit Kerzen in den Victoria-Park, um Hunderten Toten von 1989 in Peking zu gedenken.

Bereits 2020 hatten die Behörden die Veranstaltung verboten, offiziell wegen der Coronapandemie. Trotzdem hatten sich Tausende dem widersetzt. Mindestens 26 Politiker der Opposition wurden seitdem wegen der Organisation der Veranstaltung angeklagt. Doch 2021 greift der Sicherheitsapparat bereits im Vorfeld hart durch: Wer am Freitag an der Gedenkveranstaltung teilnimmt oder diese bloß bewirbt, muss mit bis zu fünf Jahren Haft rechnen.

„Hongkong war eine Stadt der freien Welt, doch längst ist sie verloren“

Wuer Kaixi, Pekinger Studentenführer, 1989

„Die Mahnwache bot den stärksten Beweis, dass Hongkongs Freiheiten intakt bleiben“, heißt es in einem Leitartikel der lokalen South China Morning Post: „Eine Erlaubnis für die Veranstaltung wäre der beste Weg für Peking, um der Kritik zu entgehen, die Meinungsfreiheit in Hongkong werde unterdrückt.“ So logisch das Argument ist, klingt es doch geradezu naiv: Chinas Parteikadern geht es längst weniger darum, international als verantwortlich wahrgenommen zu werden als vielmehr darum, eine Botschaft der Angst an ihre Kritiker zu senden. Seitdem Peking Hongkong im letzten Juli ein „Gesetz für nationale Sicherheit“ aufgezwungen hat, steht dort quasi jede Kritik am politischen System Chinas unter Strafe.

Auch wenn das Tiananmen-Gedenken offiziell wegen Corona verboten wird, ist diese Begründung absurd: Kinos dürfen in Hongkong längst mit einer Auslastung von 75 Prozent öffnen, ins Fußballstadion kamen kürzlich 8.000 Fans zum Public Viewing. Dafür sind lokale Medien voller Berichte, die den veränderten Normalzustand zeigen – etwa über eingeschüchterte Lehrer, die ihre Schüler nicht mehr über die Ereignisse vom 4. Juni aufklären. Denn selbst der Akt des Erinnerns kann jetzt als „Subversion“ interpretiert werden und eine Haftstrafe nach sich ziehen.

„Hongkong war eine Stadt der freien Welt, doch längst ist sie verloren“, sagt Wuer Kaixi, 53, der die Pekinger Proteste 1989 als Student angeführt hat. Unvergessen ist seine im Fernsehen gezeigte Begegnung mit dem damaligen Premier Li Peng, mit dem Kaixi – ausgemergelt vom Hungerstreik und nur im Schlafanzug gekleidet – ohne erkennbaren Respekt debattiert hat. Wenige Wochen später floh er nach Hongkong und lebt mittlerweile im Exil in Taiwan.War sein Protest von damals vergebens? „Wir haben den Kampf verloren, aber den Grundstein für die Siege anderer gelegt“, sagt er. Chinas kommunistische Führung sei mittlerweile nicht mehr nur eine Bedrohung für das chinesische Volk, sondern wegen ihres politischen Systems auch für die Weltgemeinschaft. „Ich zeige mit meinem Finger auf die Länder, die das ermöglicht haben“, sagt der Dissident und meint die westlichen Staaten, die mit ihren China-Geschäften den Aufstieg des Landes beschleunigten.

Dieses Foto der „chinesischen Lösung“ vom 4. Juni 1989 hat sich in die Erinnerung einer Generation eingebrannt Foto: Fo­to:­ Jeff Widener/ap

Während Wuer im Exil lebt, sind Ex-Mitstreiter gebrochen oder wieder in Haft. Die Organisation Chinese Human Rights Defenders dokumentiert ihre Spuren: Der damalige Staatsanwalt Shen Liangqing, der 1989 Demonstrationen organisierte, wurde zuletzt am 15. Mai 2019 von Sicherheitskräften abgeführt. Der damalige Student Chen Shuqing sitzt seine zweite langjährige Haftstrafe ab: 10,5 Jahre für „Subversion“. Ex-Studentenführer Chen Xi saß gar 23 der letzten 32 Jahren hinter Gittern. Doch gibt es noch eine dritte Gruppe früherer Tiananmen-Aktivisten:

Diejenigen, die das System heute verteidigen wie Hu Xijin, Chefredakteur der nationalistischen Parteizeitung Global Times. Damals demonstrierte er auf dem Tiananmen-Platz, heute verteidigt er in Leitartikeln die Niederschlagung der Demokratiebewegung als „Immunisierung gegen künftige politische Instabilität“.