Neues Album von The Chills: Straucheln und Berappeln

Die neuseeländische Gitarrenpopband The Chills trotzt persönlichen Krisen – und bietet auf ihrem neuen Album „Scatterbrain“ außerirdisch schöne Songs.

Sieht gediegen aus, ist aber kein reiner Herrenclub: The Chills und Martin Philipps am Tisch Foto: Alex Lovell-Smith

Für jemanden der sich über Jahrzehnte regelmäßig selbst ein Bein gestellt hat, läuft es gerade ziemlich rund bei Martin Phillipps. Nicht grandios. Das wäre gut 40 Jahre nach dem Start seiner Band The Chills in einer kleinen neuseeländischen Studentenstadt namens Dunedin auch ein bisschen viel verlangt.

Aber allemal besser, als man nach schwerer Hepatitis-C-Erkrankung, jahrelanger Drogenabhängigkeit und ewigem Geheimtippstatus hätte meinen können. „Scatterbrain“, das dritte Album, nachdem die Chills vor ein paar Jahren überraschend wieder Fahrt aufgenommen haben, ist wieder ein gutes geworden, ein ausgezeichnetes sogar.

Ruhiger, dunkler und nachdenklicher als man den keyboardlastigen Pop der Chills zuvor oft kannte, aber gleichzeitig so versponnen wie lange nicht mehr, klingen die neuen Songs. Dabei tauchte die Band genau so auf: düster und verwirrend. „Pink Frost“ feuerte mit gegenläufigen Gitarren- und Bassläufen, irritierenden Tempowechseln und seiner außerirdischen Schönheit eine interkontinental sichtbare Leuchtrakete ab.

Seht her, sagte dieser extraordinäre Song 1984 dem Rest der Welt: In diesem Paradies der Schaf­züch­te­r:In­nen und Back­pa­cke­r:In­nen kümmert man sich nicht um die lauten Gitarren Amerikas oder den dicken Kajalstrich Großbritanniens. In Neuseeland hören sie einfach immer weiter Velvet Underground und die Byrds und basteln daraus den tollsten Gitarren-Folk-Pop des Jahrzehnts.

Goldener Junge des Dunedin Sounds

Martin Phillipps war der goldene Junge dieses Dunedin Sounds um Bands wie The Clean, The Bats und The Verlaines, ja eigentlich des ganzen, die Szene dominierenden neuseeländischen Labels Flying Nun Records. Nur er durfte einen Song „Heavenly Pop Hit“ nennen, ohne als Fatzke zu gelten. Am Ende wurde es doch eine Achterbahnfahrt: Das US-Majorlabel Warner Brothers, das The Chills unter Vertrag nahm, sah nie die erhofften Verkaufszahlen und verlor schnell den Spaß an der Band; die Mitglieder wechselten fast so schnell wie bei The Fall und das Leben als Hoarder von Plastikspielzeug, Comics und Vinyl kann auch anstrengend sein.

The Chills: „Scatterbrain“ (Fire Recrods/Cargo)

„Triumph & Tragedy of Martin Phillipps“ hieß dann auch der vor zwei Jahren erschienene sehenswerte Chills-Dokumentarfilm. Die Musik auf „Scatter­brain“ fällt nun eher unter Triumph. Den angenehm bescheidenen Triumph einer gestandenen Band. „We weathered the ages and we still stand“, heißt es gleich im Auftaktsong, dem kraftvoll vorantrabenden „Monolith“. Biografische Symbolik darf unterstellt werden. Folkig mystisch geht es weiter mit dem Memento mori „Hourglass“ und der Ode an Phillipps’ verstorbene Mutter („Caught In My Eye“).

Wie überhaupt Tod und Vergänglichkeit einiges an Raum einnehmen in den zehn Songs. Ausstaffiert mit den gewohnt breiten Keyboards und einer überraschenden Prog-Pop-Komplexität wie in „You’re Immortal“. Schwülstigkeit gerät dabei gelegentlich in Sichtweite, doch die Songs drehen vorher immer wieder ab. Martin Phillipps kennt heute seinen Platz: Nicht an der Spitze der Charts, aber im Herzen einer lange gewachsenen und sehr ansehnlichen Fanbasis.

Die schätzt vor allem diese typischen Chills-Hits. Songs wie „Little Aliens“, „Destiny“ oder „Walls Beyond Abandon“ sind leicht, luftig und sehr süß. Ausgezeichnetes neuseeländisches Pop-Backwerk eben.

Für den im September anstehenden 40. Geburtstag des Flying-Nun-Labels werden längst Ausstellungen konzipiert, Bücher geschrieben und Jubiläumskonzerte geplant. Obwohl die Chills schon lange auf anderen Labels veröffentlichten und ihr Sound heute weit glatter ist als in den Flying-Nun-Jahren, gebührt ihnen dabei ein Ehrenplatz. Kaum eine Band hat den eigenwilligen Pop Neuseelands schließlich in mehr Ohren getragen als Martin Phillipps und The Chills. „Scatterbrain“ ist das jüngste Beispiel.

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