Nun danket alle Poirot

Katharina Thalbach inszeniert den berühmten Agatha-Christie-Stoff „Mord im Orientexpress“ in der Komödie am Kurfürstendamm im Schillertheater als Musical

In Kürze wird sich der Zug in Bewegung setzen. V. l.: Christoph Marti, Nadine Schori, Andreja Schneider und Wenka von Mikulicz Foto: Franziska Strauss

Von Esther Slevogt

Der erste Wow-Moment stellt sich am Bahnhof von Istanbul ein: Oben laufen geschäftig und toll im Stil um 1930 gekleidete Menschen mit Koffern herum, ein westöstliches Gewimmel im Dunst von Dampflokomotiven. Unten am Bahnsteig wartet derweil schon der Orientexpress auf seine illustren Passagiere.

Der Luxuszug der Compagnie Internationale des Wagons-Lits verkehrte seit 1883 zwischen Paris und Istanbul und inspirierte die britische Schriftstellerin Agatha Christie zu ihrem mehrfach verfilmten Krimi „Mord im Orientexpress“, den Katharina Thalbach nun als großes Theaterspektakel mit choreografierten Tanz- und Gesangseinlagen zwischen Groß- und Kleinkunst in Szene gesetzt hat – mit sich selbst in der Rolle des Detektivs Hercule Poirot, den sie mit französelndem Akzent und schrulligem Charlie-Chaplin-Appeal versieht.

Ebenfalls mit von der Partie sind Tochter Anna und Enkelin Nellie, die show- und operettenerfahrenen Geschwister Pfister alias Andreja Schneider, Tobias Bonn, Max Gertsch und Christoph Marti sowie Mat Schuh als herrlich schrundiges Ekelpaket und Mordopfer in spe. Über der zweistöckigen Bühne, mit der Momme Röhrbein im Schillerfheater ein überwältigendes Raumerlebnis schafft, wölben sich gemalte gusseiserne Bögen. Perspektiven stürzen ineinander, wie in Collagen von John Heartfield.

Nach und nach treffen die First-Class-Passagiere ein, die ein noch unsichtbares Schicksalsband verbindet. Als alle eingestiegen sind, setzt sich der blaue Zug zur Begeisterung des Publikums tatsächlich in Bewegung und fährt ab. Wir sind wieder live im Theater und die große Illusionsmaschine spielt mit ihren Muskeln.

Begonnen hatte das Theater schon vor dem Schillertheater. Liegestühle und Schampus-Stände auf der Wiese davor. Ein roter Teppich, auf dem Fernsehpromis und anderes Theatervolk in großer Garderobe zu den Stehtischen schreiten, um den Impfstatus zu belegen und das obligate rote Armbändchen zu erhalten. Auch so was gibt’s nur in der Kudamm-Komödie: hysterische Fotografenknäuel, die den posierenden Promis Regieanweisungen zubrüllen.

„Zeig deine Zähnchen, Guido“, etwa dem für die umwerfenden Kostüme verantwortlichen Modedesigner und Ex-Supertalent-Juror Guido Maria Kretschmer, der im Verbund mit Bühnenbildner Momme Röhrbein den Zirkus geduldig mitmacht. Sabin Tambrea winkt, Jutta Speidel soll sich fürs Foto eng und enger an ihren Begleiter schmiegen, während Ursela Monn vergeblich versucht, sich ungesehen ins Theater zu schleichen.

Drinnen schnurrt dann swingend der melodramatische Plot um den Mord im Orientexpress als Typenkomödie über die Bretter. Andreja Schneider brilliert als schlechtgelaunte matronenhafte russische Prinzessin mit Betonfrisur, begleitet von einer ältlichen blondbezopften deutschen Gesellschafterin (Wenka von Mikulicz) und einer schreianfälligen jungen Greta Ohlsson (Nadine Schori). Anna Thalbach ist eine hysterisch laszive Mary Debenham, Nellie Thalbach eine mysteriöse Schönheit mit ungarischem Adelstitel. Allerlei schräge Herren bevölkern die Szene.

Die große Illusionsmaschine spielt mit ihren Muskeln

Im Schneesturm muss der Zug auf offener Strecke halten. Mit neun Messerstichen wird nachts ein Mann getötet. Inspektor Hercule Poirot nimmt die Ermittlungen auf. Schritt für Schritt enthüllt sich dann der Mord als Racheakt für ein anderes Verbrechen: der Ermordung eines Kindes, in dessen Folge seine ganze Familie ausgelöscht wurde. Der Täter wurde nie verurteilt.

Das holen in einem Akt von Selbstjustiz nun die Reisenden nach, die nicht zufällig in diesem Orientexpress sitzen, und deren Beziehung zum Mordopfer Poirot am Ende enthüllt. Und Gnade walten lässt. „Nun danket alle Poirot“ säuseln im Choral die Geretteten am Ende in ihren prächtigen Kostümen, während der herrlich zwischen Belle-Epoche und Art-Deco ausgestattete Salonwagen langsam in die Bühnentiefe entschwindet.

Zuvor hatte sich darin das tragische Geschehen im Showformat entblättert: Christoph Marti als divenhafte Hellen Hubbard (und Großmutter des getöteten Kindes) immer wieder Diseusen-Glamour beigesteuert, am Klavier manchmal von Zugchef Monsieur Bouc alias Tobias Bonn begleitet. Überhaupt sind Temperaturen und Atmosphären des Abends stark von der aus Versatzstücken aus Klassik, Operette und Chanson gesampelten Musik von Christoph Israel geprägt.

Das Schauspiel ist so nah an der Karikatur, dass man eher den Marotten der Figuren als der Geschichte folgt. Dies allerdings bereitet ziemliches Vergnügen, auch der vielen Ah- und Oh-Momente wegen, für die vor allem die spektakuläre Bühne und die umwerfenden Kostüme sorgen.