Die Geburt der Kunstliebe aus dem Geist des Pfeffersacks

Im Verein ist Kunst am schönsten (3): Zurecht zählen die Kunstvereine seit 2021 zum immateriellen Weltkulturerbe: Ihre Erkundungs- und Vermittlungsarbeit macht Gegenwartskunst für jeden erfahrbar – noch bevor sie im Museum einstaubt. Und jeder hat seine ganz eigene Geschichte. Die taz erkundet ihren Beitrag zum norddeutschen Kulturleben in Porträts. Diesmal: Hamburg

Von Bettina Maria Brosowsky

Nur die 1792 in Nürnberg gegründete „Kunst-Societät“ ist noch älter: Der Kunstverein in Hamburg konstituierte sich 1817, wenige Jahre nach Ende der für die Hansestadt verheerenden napoleonischen Besatzungszeit. Die kleine „private Vereinigung kunstliebender Männer“, so ein Rückblick im Jahr 1900, gab sich 1822 eine erste Satzung.

Die lange, bewegte Geschichte spiegelt seither die politischen Wechselfälle der vergangenen zwei Jahrhunderte. Sie zeigt vor allem aber die gesellschaftliche Rolle eines erstarkenden, sich emanzipierenden Bürgertums während des 19. Jahrhunderts; seine Kulturleistungen, auch im Dienste einer nationalen Identitätsbildung wäre hier eine professionalisierte, in Maßen demokratisierte Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunst und deren Förderung.

Dabei bot Hamburg keine den Künsten freundliche Ausgangssituation. Weder gab es das Referenzsystem einer Sammlung alter Meister wie in den Residenzstädten noch eine Kunstakademie oder Universität. Merkantiler Geist dominierte das Selbstverständnis, anfänglich auch die exklusive Männergesellschaft des Vereins: Man traf sich wöchentlich abends, um eigene Bestände – meist Grafiken und Zeichnungen – zu diskutieren und nebenbei Geschäftsbeziehungen zu pflegen.

Vielleicht, weil solches Distinktionsbemühen allein nicht abendfüllend war, erwuchs aus den Zusammenkünften schnell auch ein geschmackserzieherisches, aufklärerisches Sendungsbewusstsein: Öffentliche Ausstellungen wurden veranstaltet – die erste fand 1826 statt, unter anderem mit zwei Bildern Caspar David Friedrichs; ein Museum wurde gefordert und durch Kunstankäufe, testamentarische Schenkungen und finanzielle Spenden auch initiativ gefördert. Das Resultat war die 1869 eingeweihte Kunsthalle, aber auch – bis in die beginnenden 1960er-Jahre – die zumindest zeitweilige Personalunion von Kunsthallen- und Kunstvereinsdirektion.

Mit knapp 2.000 Mitgliedern zählt der Kunstverein in Hamburg heute zu den großen seiner Art in Deutschland. Er ist ein Schwergewicht, selbst wenn seine Hochphase mit mehr als 4.000 Zugehörigen auf Mitte der 1960er-Jahre datiert, und etwa der Verein in Bremen rund fünfmal so groß ist. Das schmälert nicht das Selbstbewusstsein: Bettina Steinbrügge, seit 2014 die erste Direktorin, weiß um das Potenzial der Institution. Als Honorarprofessorin an der örtlichen Hochschule für Bildende Künste ist sie auch im akademischen Betrieb präsent und arbeitet mit international bedeutenden Museen.

Derzeit etwa bereitet sie mit dem Migros Museum für Gegenwartskunst (Zürich) und dem Museum Serralves (Porto) eine Einzelausstellung des thailändischen Multimediakünstlers Korakrit Arunanondchai vor, die zum Jahresende eröffnen wird: Er fokussiere die Idee eines „lebenden Archivs“, so die Ankündigung.

Steinbrügge versteht den Kunstverein als Auftrag zur Produktion. Mit ihrem etwa zehnköpfigen Team verfügt sie über ausreichende Ressourcen, um jährlich auch drei bis vier Publikationen zu stemmen. Dazu gehört etwa der Band, der die kunsthistorische Erforschung der Institutionsgeschichte bündelt, erschienen 2017 zum 200-jährigen Jubiläum.

Darin werden auch die vielen Ortswechsel rekapituliert. Programmatisch baulicher Glanzpunkt war etwa das 1930 eröffnete Domizil in der Neuen Rabenstraße 25: Architekt Karl Schneider (1892–1945), der Moderne seines Mentors Walter Gropius verpflichtet, gelang mit radikalem Umbau und Erweiterung eines gründerzeitlichen Bürgerhauses ein richtungsweisender Ausstellungsbau. 1932 in der Ausstellung „The Internationale Style“ im New Yorker MoMA gefeiert, geriet er für den Kunstverein zum finanziellen Debakel, wurde 1937 zwangsversteigert und fiel 1943 Bomben zum Opfer.

Der 1931 als Direktor verpflichtete Hildebrand Gurlitt wechselte 1933 sozusagen die Seiten und avancierte zum fragwürdigen Kunsthändler und Sammler des NS-Regimes. Der Kunstverein überdauerte, auf gut 300 Mitglieder geschrumpft: Ab 1947 widmete er sich in Räumen der Kunsthalle der Rehabilitierung einer verfemten Moderne – das Nachkriegsprogramm aller westdeutschen Vereine.

Seinen aktuellen Standort im Kontext der „Hamburger Kunstmeile“ – unter anderem sind das die Deichtorhallen, das Museum für Kunst und Gewerbe, und die Kunsthalle – und unmittelbar benachbart zu Kunsthaus und Freier Akademie der Künste bezog der Kunstverein 1993. Das üppige Flächenangebot der umgebauten Markthalle – laut Steinbrügge mehr als die Kunsthalle Düsseldorf – hält auf zwei Geschossen unterschiedliche Raumqualitäten vor, legt somit parallele Präsentationen nahe; derzeit gewidmet dem Hamburger Spontanisten Peter Ernst Eiffe (1941–1983) sowie einem Film Albert Serras (siehe unten).

Gesellschaftlich und politisch wichtige Fragestellungen sind es, die Künst­le­r:in­nen stellen müssen, Steinbrügge interessieren zudem Randbereiche zu Musik, Theater und, eben, Film. Der experimentelle Umgang mit den Räumen ist weitere Voraussetzung. „Ich lade keine Künstler ein“, sagt die Direktorin; gemeinsam werden vielmehr die Ausstellungsprojekte erarbeitet – Kunstproduktion ist Kuratieren.

Das letzte Jahr war anstrengend und arbeitsreich, ein Zurück zum Stop-and-Go-Betrieb ist nicht ausgeschlossen. Die digitale Präsenz wurde ausgebaut, auch als international erreichbare Diskursplattform oder für Kunst im Netz. „Kunstvereine“, lautet Steinbrügges Fazit, „erfinden sich immer neu“.

www.kunstverein.de