Lebenslange Rebellion wider den Zeitgeist

Die radikalfeministische Schriftstellerin Jutta Heinrich ist vorige Woche überraschend in Hamburg gestorben. Aufgefallen war sie schon in den 1960er-Jahren vor allem durch klare Analysen der Geschlechterverhältnisse, die ihrer Zeit oft weit voraus waren. Ein Nachruf

Hörte irgendwann auf zu schreiben: Jutta Heinrich Foto: Fo­to: ­S­te­phan Gabriel

Von Petra Schellen

Sie war eine starke, zeitlebens politisch engagierte Persönlichkeit. Sie verschrieb sich einer Sache mit Haut und Haaren und führte sie zum Erfolg. Nur, dass die Schwerpunkte wechselten im Leben der 1940 in Berlin geborenen Autorin Jutta Heinrich, die vor wenigen Tagen in Hamburg starb.

Da war einmal die 14-Jährige, die sich nach dem Weggang der Mutter auch um die jüngeren Schwestern kümmerte und im väterlichen Unternehmen mitarbeitete. Da war später die selbstständige Handelsvertreterin und Unternehmerin, die zwar der bürgerlichen Enge entkommen war, aber oft männliche Dominanz erlebte. Erfolgreich war sie trotzdem, die Geschäfte florierten.

Ausschließlich aufs Materielle fixiert war Jutta Heinrich dabei nie, hat schon als Kind geschrieben. Dafür habe sie sogar manchmal die Schule geschwänzt, erzählt ihre langjährige Weg- und Lebensgefährtin Heidemarie Ott. Sie holte ihr ­Abitur nach, studierte 1972 Sozialpädagogik, 1975 Literaturwissenschaft und Germanistik. Früh hat Jutta Heinrich auch die strukturelle und individuelle Unterdrückung der Frau gespürt und sie 1966 in ihrem Debütroman „Das Geschlecht der Gedanken“ beschrieben.

In dem Buch rebelliert ein Mädchen gegen die beengende Erziehung zur Frau im kleinbürgerlichen Milieu, gegen männliche Dominanz und den Chauvinismus der deutschen Nachkriegsgesellschaft überhaupt. Der Roman ist analytisch scharf, erbarmungslos, bissig. Er hätte sofort erscheinen können – wenn sich Jutta Heinrich ein männliches Pseudonym zugelegt hätte. Denn die Verlage wollten ein so radikales, nicht larmoyantes Buch nur einem Mann zuschreiben – zynischer Beleg für den im Buch verhandelten Herrschaftsanspruch.

Aber Jutta Heinrich wollte sich nicht verleugnen und genau jene Strukturen stärken, gegen die sie schrieb. Also wartete sie, bis auch die Verlags- und Feuilletonbranche so weit war, und brachte das Buch 1977 heraus.

Das Echo: furios. Statt der bis dato Frauen zugeschriebenen Leidensliteratur sei dies die „Rache des Opfers“, schrieb die Zeit. Es sei ein Buch über „tote Seelen“ fand der Spiegel. „Eines der aufregendsten, poetischsten und genauesten Bücher über die Wechselwirkung von Unterdrückung und Gewalt“, schrieb Prof. Renate Möhrmann im „Kritischen Lexikon der Gegenwartsliteratur“. Und der Autor Jürgen Strasser schrieb für das PEN-Zentrum Deutschland, dem Jutta Heinrich seit 1999 angehörte: „Sie war eine wichtige Wegbereiterin des Feminismus und verstand es oft mit pointiertem Witz, traditionelle Rollenbilder in Frage zu stellen.“

Doch so radikal Jutta Heinrich auch war: Sie hatte auch eine zarte, ängstliche Seite, ja: eine Ur-Angst, die nach dem Fast-Atom-GAU von Harrisburg 1979 viel Raum bekam: „Mit meinem Mörder Zeit bin ich allein“ heißt die Sammlung von Briefen, Romanfragmenten, Traumprotokollen, Tagebuchaufzeichnungen und Gedichten, mit denen sie gegen das Verdrängen der atomaren Bedrohung anschrieb.

„Diese Texte sind Ausdruck meiner körperlichen und seelischen Reaktionen auf ein Leben unter dem Atompilz, es ist die rebellische, irrende Suche nach einer Heimat meines Lebens, unser aller Leben, in einer Zeit, die immer zeitloser wird, in einer Zukunft, die explodiert“, hat die Autorin laut Homepage des Fischer-Verlags einmal über ihr Buch gesagt.

Schreiben war für Jutta Heinrich Verarbeitung, Politikum und Botschaft zugleich, und auch in ihrem Habitus war sie absolut: Ihre Wut und Hoffnungslosigkeit über die gesellschaftlichen Verhältnisse sei frisch wie eh und je, aber sie wolle sich nicht wiederholen, hat sie der taz 2016 anlässlich der Neuauflage einiger ihrer Werke gesagt. Deshalb schreibe sie nicht mehr – weder Literatur noch Radiobeiträge.

Stattdessen produzierte Jutta Heinrich in den letzten Jahren spitze, spritzige Kabarett-Texte und betrieb vor allem die transgenerationelle Weitergabe durch Schreibwerkstätten für die Jüngeren. Für diejenigen, die ihren literarischen Ausdruck noch nicht gefunden hatten.

Jutta Heinrichs eigene professionelle Literatenkarriere liest sich fast wie eine jener „Erweckungsbiografien“, in denen ein Manager nach einer Grenzerfahrung plötzlich zum Aussteiger wird. Für Jutta Heinrich markierte 1966 eine Aufführung von Anton Tschechows „Möwe“ den Wendepunkt. Da wusste sie: Sie war gefangen, würde sich fortan der Literatur verschreiben. „Das Unternehmertum gehörte zu ihrer Abenteuerlust, bis das ­Schreiben durchbrach, wie sie es selbst nannte“, sagt Heidemarie Ott.

Ihre Wut und Hoffnungslosigkeit über die gesellschaftlichen Verhältnisse war frisch wie eh und je, aber sie wolle sich nicht wiederholen

Und Jutta Heinrich machte Ernst: Gab ihr Unternehmen auf, eröffnete einen kleinen Imbiss in Hamburg. Las dabei wie besessen Literatur; machte den Imbiss zum Debattenort. Und dann gab es kein Halten mehr: Sie schrieb, erhielt Preise und Arbeitsstipendien – unter anderem im Jüdischen Museum Rendsburg, in Worpswede, Amsterdam, Berlin und im Wendland, wo ihre vier Schwestern leben.

Ab 2000 nahm sie außerdem Lehraufträge in Hamburg und Bremen wahr, auch eine Gastprofessur für Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin; leitete ein interkulturelles Theaterprojekt in Augsburg. 2017 ehrte sie Hamburgs Senat, verlieh ihr für ihre künstlerischen und kulturellen Verdienste die Senator-Biermann-Ratjen-Medaille.

Jutta Heinrich liebte Männer und Frauen, lebte die letzten 24 Jahre mit Heidemarie Ott in einer Wohnung am Hamburger Hafen. „Uns verband unerschütterbares Vertrauen zueinander und die Idee der Liebe als ein Kind der Freiheit“, sagt Ott. „Wir haben Liebe nicht mit Sexualität gleichgesetzt. Wir haben viele Leben und Lieben gelebt, sind einander aber ein Zuhause geblieben.“

So ganz zum Zeitgeist gepasst hat Jutta Heinrich allerdings nie: „Ohne meinen Chauvi-Geist wäre ich längst tot“, hat sie der taz einmal gesagt. „Ihre punktuelle ,Über-Heblichkeit' bezog sich auf Einverleibungsversuche und identitäre Zuschreibungen“, erklärt Heidemarie Ott. „Meine Sexualität ist ja an und für sich in Ordnung, nur nicht im Verhältnis zur Welt“, fand Jutta Heinrich selbst.

Durch deren plötzlichen Tod nach kurzer, unberechenbarer Krankheit am 23. 7. 21 habe sie den Anschluss an ihr Leben verloren, sagt Heidemarie Ott. „Irgendwann wird es mir wieder gelingen. Jetzt aber erscheint mir die Welt wie ein echoloser Raum.“