Im Sanatorium der Geschichte

Das Zeughauskino und das Festival filmPolska erinnern an den Regisseur Wojciech Jerzy Has, der literarische Vorlagen in geheimnisvolle Bilder übersetzte

Still aus dem Film „Sanatorium pod klepsydrą“, der nach dem Erzählband „Das Sanatorium zur Todesanzeige“ des polnisch-jüdischen Schriftstellers Bruno Schulz entstand Foto: Fina

Von Fabian Tietke

Das Telefon, das während der Credits zu Wojciech Jerzy Has Debütfilm „Pętla“ (The Noose) im Fokus ist, lockt auf eine falsche Fährte. Was folgt, ist kein Thriller im Stile von Hitchcocks „Dial M for Murder“. Wenn überhaupt, dann ist „Pętla“ ein Thriller des Lebens in der polnischen Nachkriegsgesellschaft. Kaum beginnt der Film, schwenkt die Kamera vom Telefon auf den Protagonisten Jakub „Kuba“ Kowalski. Ihm ist das Telefon nur einen flüchtigen Blick wert auf dem Weg zum Fenster, von dem aus er auf die Uhr vor dem Juwelier gegenüber blickt. 8 Uhr. Zehn Stunden muss er noch durchhalten, bis er gemeinsam mit seiner Verlobten Krystyna zum Arzt geht.

Kowalski ist Alkoholiker auf Entzug und setzt große Hoffnungen auf die Therapie mit dem brachialen Entzugsmittel Antabus. Der Protagonist ist unleidlich, reagiert zunehmend aufbrausend auf die Kontaktaufnahmen ehemaliger Bekannter.

Auf der Straße mokieren sich alle über den Alkoholismus, zugleich ist er allgegenwärtig. Umso bemerkenswerter, dass Has 1958 in „The Noose“ nicht einfach einen Problemfilm gedreht hat, sondern zugleich einen Film über die Nervigkeit einer selbstherrlichen Gesellschaft. In einem Café trifft Kowalski eine alte Liebschaft. Der Sänger, der Kowalski aus einem Nebenzimmer heraus mit seinen Proben in den Wahnsinn treibt, stimmt „Es muss was Wunderbares sein, von dir geliebt zu werden“ aus dem Weißen Rössl an. Das seichte Schmachten könnte nicht deplazierter sein.

Das Zeughauskino widmet Has nun im Rahmen des Festivals filmPOLSKA und in Zusammenarbeit mit dem Polnischen Institut Berlin eine Retrospektive unter dem Titel „Schillernder Solitär“. Has’ Debüt legt eine Reihe von Fährten, die sich durch seine späteren Filme weiter verfolgen lassen. Wie dort ist er auch in „The Noose“ nur begrenzt an einer linearen Handlung interessiert. Innerhalb der Klammer des Countdowns bis zu Kowalskis für den Abend geplantem Arztbesuch sind die Begegnungen wie einzelne Episoden angelegt, die eine Lebenswelt umreißen, eine Atmosphäre entstehen lassen.

Bei „The Noose“ bildete eine Kurzgeschichte von Marek Hłasko, einem der „angry young men“ der polnischen Nachkriegsliteratur, die Vorlage. Hłasko wirkte auch am Drehbuch mit. 1958, dem Jahr, in dem „The Noose“ Premiere feierte, verließ er Polen, ging nach Paris, später nach Westdeutschland. Dort heiratete er Heimatfilmstar Sonja Ziemann, blieb rastlos, versuchte nach Polen zurückzukehren, beging mehrere Selbstmordversuche und starb schließlich 1969 mit nur 35 Jahren in Wiesbaden.

Schon „The Noose“ lässt die klassische Moderne der polnischen Musik auf der Tonspur ertönen. Sie stammt von Tadeusz Baird, der 1956 das Neue-Musik-Festival Warschauer Herbst mitbegründet hatte. Später folgten Kooperationen mit den großen Namen der polnischen Musikavantgarde wie Krzysztof Penderecki („Rękopis znaleziony w Saragossie“) und Wojciech Kilar („Lalka“/The Doll).

Auch viele der folgenden Filme werden auf literarischen Vorlagen basieren. 1965 verfilmt Has in epischer Breite Jan Potockis Roman „Die Handschrift von Saragossa“. Inmitten einer Schlacht der Koalitionskriege in Saragossa findet ein Offizier einen Folianten voller Zeichnungen mit spanischem Text. Da er kein Spanisch versteht, versenkt er sich in die Zeichnungen. Als ein Trupp feindlicher Soldaten ihn festnehmen will, weist er auf das Buch hin. Der spanische Offizier des Trupps setzt sich neben ihn und übersetzt.

Die Geschichte des Buches zieht die beiden in ihren Sog: Der Großvater des spanischen Offiziers, der Kapitän der wallonischen Garde Alphonso van Worden, wacht in den Bergen der spanischen Sierra Morena auf. Mit zwei seltsamen Reisegefährten macht er sich den abergläubischen Befürchtungen seiner Begleiter zum Trotz auf den Weg durch die Berge nach Madrid. Schon bald beginnt eine Reihe von seltsamen Begegnungen.

Has findet in „Rękopis znaleziony w Saragossie“ für die ineinandergeschachtelten Erzählungen der Vorlage eine über weite Strecken leichte, beinahe beiläufige Form, die das Ringen zwischen Aufklärung und Aberglauben der Vorlage zugleich mit einem surreal-verschmitzten Ton unterlegt. Wie in späteren Filmen ist auch „Rękopis znaleziony w Saragossie“ angefüllt mit Ausstattungsobjekten, die als Symbole erscheinen, ohne letztlich entschlüsselbar zu sein. Der Film wurde in Polen zu einem großen Erfolg und fand im Ausland eine Reihe von so unterschiedlichen Bewunderern wie den surrealistischen Filmemacher Luis Buñuel, den Grateful-Dead-Gitarristen Jerry Garcia und (später) den britischen Autor Neil Gaiman.

„Sein Tod wirft einen Schatten auf seinen Aufenthalt hier“, informiert der Arzt des Sanatorium professionell-betrübt den besuchenden Sohn. Acht Jahre nach der „Handschrift von Saragossa“ verfilmt Has 1973 in „Sanatorium pod klepsydrą“ den Erzählband „Das Sanatorium zur Todesanzeige“ des polnisch-jüdischen Schriftstellers Bruno Schulz. Das Sanatorium aus dem frühen 20. Jahrhundert, in dem der Sohn mittleren Alters seinen Vater besucht, ist verfallen, Bäume wuchern über die Wände. Das jedoch ist nicht das einzig Auffällige. Die Zeit verläuft in dem Sanatorium nach anderen Gesetzmäßigkeiten, der Tod des Vaters hat sich noch nicht ereignet.

Der Film fand Bewunderer wie den surrealistischen Filmemacher Luis Buñuel

Jeder der Räume, die der Sohn betritt, scheint eine neue surreale Welt zu eröffnen. Der Film folgt dieser Erkundung einer verschrobenen Welt, das ist wichtiger als eine lineare Handlung. Der Sohn hebt sich in seiner Kleidung und seinem Verhalten von den Figuren, denen er begegnet, ab, wirkt wie ein Gast aus der Gegenwart in der Vergangenheit.

Schulz Erzählungsband, der die Vorlage bildet, wurde 1937 veröffentlicht, umkreist in seinen Erzählungen das Leben in der Kreisstadt Drohobytsch in Galizien, in der Schulz geboren und, nachdem ihn die Deutschen 1941 im Ghetto interniert hatten, auch ermordet wurde. Has’ Film entstand 1973, wenige Jahre nachdem grassierender Antisemitismus, befeuert von der polnischen Staatsfüh­rung, große Teile des wenigen verbleibenden jüdischen Lebens nach dem deutschen Morden während des Zweiten Weltkriegs ins Exil getrieben hatte.

Die Erinnerung an jüdisches Leben in „Sanatorium pod klepsydrą“ ist eine doppelte – die von Schulz an die zerstörte Welt Galiziens und die von Has an die Flucht wenige Jahre zuvor. 1973 zeigte Has „Sanatorium“ trotz eines Verbots durch die polnischen Behörden in Cannes. Der Film wurde mit dem Preis der Jury ausgezeichnet.

Das Zeughauskino erinnert in der Reihe „Schillernder Solitär“ mit acht Filmen an Has und lädt dazu ein, einen heute außerhalb Polens nur wenig bekannten Regisseur wiederzuentdecken. Has’ surreale Welten haben bis heute nichts von ihrer Bildgewalt eingebüßt.

Am 26. August startet die Reihe „Schillernder Solitär“ mit „Sanatorium pod klepsydrą“ um 20 Uhr.