Dilek Güngors Buch „Vater und ich“: Das Schweigen

Literatur über die Beziehung zwischen Vätern und Töchtern gibt es zu wenig. Dilek Güngor hat einen Roman über dieses Verhältnis geschrieben.

Portrait der Schriftstellerin Dilek Güngör. Sie ist Autorin des Romans "Vater und ich", der für den Deutschen Buchpreis nominiert ist; 2021

Dilek Güngör: ihr Roman „Vater und ich“ ist für den Deutschen Buchpreis 2021 nominiert Foto: Amélie Losier

Manchmal stellt sich Ipek vor, ihr Vater sei ein Fremder. Ein richtig Fremder, einer für den sie nichts empfindet. „Dann sehe ich dich vor meinem inneren Auge beim Zwiebelschälen oder Rasieren, betrachte dich und denke, wir haben nichts miteinander zu tun. Du ahnst nicht, dass ich dich verlassen habe, merkst nicht, dass du allein bist, ohne meinen Schutz. Das ertrage ich nicht lange, es tut mir weh, dich so von mir abzuschneiden. Stumm nehme ich dich wieder an.“

Um dieses Verhältnis, zwischen zu nah und zu fern, zwischen Schmerz, Zuneigung und Scham, kreist die Geschichte in „Vater und ich“. Ipek, als Journalistin in Berlin lebend, reist darin für einige Tage zu ihrem Vater. Um zu reden, denn reden, das tun sie seit vielen Jahren eigentlich kaum miteinander.

Dilek Güngör hat einen Roman über eine Vater-Tochter-Beziehung geschrieben (Verbrecher Verlag, 104 Seiten, 19 Euro). Davon gibt es in der modernen Literatur viel zu wenige, denn die der Beziehung zugrundeliegenden Gefühle lassen sich nur tastend erkunden, nicht auf Eifersucht oder Machtfragen herunterbrechen.

Viele traditionelle Vaterbilder funktionieren heute zum Glück nicht mehr. Was also, wenn der Patriarch am Herrschen gar kein Interesse mehr hat? Dilek Güngör zeichnet einen Vater, der zwar bereitwillig moderne Luft atmet, mit den Füßen aber noch durch konservative Gewässer watet. „Dass dir die Sache mit Steffen nicht gefiel, merkte ich auch so“, schreibt sie. „So unangenehm dein stummer Protest war, wenn du mich an den Wochenenden zu ihm fuhrst, war ich froh über unser Schweigen im Auto.“

Die Beziehung zum Vater

Güngör hat über die eigene Beziehung zum Vater viel nachgedacht. In der Berliner Zeitung schrieb die Journalistin eine Kolumne über ihre aus der Türkei eingewanderte Familie. Verändert hat sich dadurch nichts. „Das Schrei­ben über meinen Vater verläuft parallel zu unserer Beziehung“, sagt Güngör. „Wir reden darüber gar nicht.“ Erst kürzlich habe sie jedoch ein verhältnismäßig langes Telefongespräch mit ihm geführt. Vielleicht habe er das Buch ja gelesen?

Zwischen den Familienkolumnen, die 2004 als Buch erschienen, und dem nun dritten Roman Güngörs sind 17 Jahre vergangen. Der Roman habe lange in ihr gegärt, sagt sie. Und er hatte zunächst eine ganz andere Rahmenhandlung: Güngör ließ im ersten Manuskript Vater und Tochter einen Roadtrip unternehmen.

„Doch dann habe ich das alles wieder gestrichen und gemerkt: die brauchen diesen Rahmen gar nicht.“ Das Elternhaus und drei Tage ohne die verreiste Mutter sollen reichen, um sich anzunähern. Oder eben nicht anzunähern. „Die leeren Zimmer sind fast unheimlich ohne Mama“, heißt es im Roman. „Was immer wir tun, wir zwei werden kein Leben in diese Räume bringen.“

Die Sprache in „Vater und ich“ ist schnörkellos, einfach, fast näher am Essay als an der Prosa. Kunstvollere Sätze hätten einer Geschichte, die von einer aufs Notwendigste konzentrierten Sprache erzählt, auch nicht gutgetan. Güngör hat über den Verlust der Sprache zwischen Vater und Tochter schon vor einem halben Jahr einen langen Text in der Zeit veröffentlicht. Das Interessante: Über weite Strecken ist der Text so auch im Roman zu finden – Ipek, die Protagonistin in „Vater und ich“, kommt in dem Essay aber gar nicht vor.

Das Autobiographische ist nicht wichtig

Wo spricht Ipek, wo spricht Dilek? „Ich finde die Frage nach dem Autobiografischen eigentlich gar nicht so wichtig“, antwortet darauf die Autorin. „Der Roman ist nicht besser oder schlechter, weil die Geschichte mir passiert ist oder nicht.“

Wie Dilek Güngör scheint Ipek nicht zu der Sorte Journalistin zu gehören, die es liebt, selbstbewusst unangenehme Fragen zu stellen. Sie hört lieber zu. Ist das Schweigen für den Vater in Ordnung? Ipek weiß es nicht. „Wenn du mir einmal gesagt hättest, was du willst“, heißt es. Und später: „Kannst du auch mit einer erwachsenen Tochter etwas anfangen?“ Früher, in der Kindheit, gab es zwischen beiden keine Probleme, sondern Nähe, Witze und fröhliches Herumtollen. Bis das wilde Spielen ayıp wurde.

Viele traditionelle Vaterbilder funktionieren zum Glück nicht mehr. Was also, wenn der Patriarch am Herrschen gar kein Interesse mehr hat?

So sucht Ipek den Grund für das Schweigen bei sich selbst, beziehungsweise in der Zeit, in der die Nähe zum Vater auf einmal unpassend erschien: „Später wollte ich nicht einmal vor der Schule mit dir gesehen werden und stieg schon an der Ecke aus. Habe ich den Anfang gemacht?“

Während Ipek auf der einen Seite ihre eigene Stimme findet, zeichnete sich auf der anderen Seite der Verlust einer Sprache ab: „Türkisch war etwas für zu Hause, eine Sprache, die außer für den Hausgebrauch wenig nützlich war“, reflektiert Ipek, die wie Dilek Güngör aus dem Schwabenland kommt.

Ein anderes Türkisch

Erst später belegt sie in der Uni Türkischkurse, doch auch das bringt die Nähe zwischen ihr und dem Vater nicht zurück. Denn es ist ein anderes Türkisch, das an der Universität gelehrt wird, ein dialektfreies: „Zu Hause, mit dir, sprach ich mein neues Türkisch nicht, es war mir peinlich, dir in deiner eigenen Sprache fremd zu sein.“

Eigentlich spielt das Türkischsein in „Vater und ich“ jedoch keine große Rolle: Das Schweigen zwischen beiden wäre in einer einzigen Sprache genauso bedrückend. Güngör, die quasi ihr ganzes Berufsleben lang über ihre türkische Familie geschrieben hat, hat ihren Frieden mit dem Thema gemacht. „Ich kann über das Türkischsein schreiben, muss es aber nicht mehr“, sagt sie.

Das ist vielleicht das Bemerkenswerte an „Vater und ich“: Ipek ist ganz nebensächlich in einer Welt zu Hause, die keine rein deutsche ist. „Ich denke, solche Geschichten braucht es mehr“, sagt Güngör. „Das Türkische wird zwar miterzählt, ist aber nicht das Thema des Romans.“

Durch die Herkunft geprägt

Die Entscheidung dafür musste sie selbst treffen. Ihr letzter Roman „Ich bin Özlem“ verhandelte genau dieses Spannungsverhältnis zwischen eigen- und fremdbestimmter Konzentration auf die Herkunft. Nichts habe sie so stark geprägt wie die Herkunft ihrer Familie, glaubt darin die Protagonistin. Oder weisen sie ihre Leh­re­r:in­nen oder Nachbarn nur immer genau darauf hin? Güngör meint: „Man muss versöhnlich bleiben, auch wenn die ewige Frage nach dem ‚Woher kommst du?‘ anstrengend ist.“

Etwas Verbindendes zu schaffen, universelle Gefühle hervorzurufen, ist erklärtermaßen ihr Ziel. Beschreibt eine Autorin ein Gefühl nur präzise genug, ist es praktisch egal, was es ausgelöst hat. So schildert Dilek Güngör an einer Stelle nicht nur die Scham, die Ipek als Jugendliche angesichts der nichtdeutschen Unterschrift ihrer Mutter empfand, sondern lässt im Leser auch das viel bedrückendere Gefühl aufkommen, das die erwachsene Ipek durchzuckt, wenn sie an diese Episode zurückdenkt.

Die Eltern, sie waren uns allen einmal unangenehm, und die kleinen Verletzungen, die wir ihnen durch unsere Ablehnung zufügten, schmerzen in uns heute vielleicht schlimmer als in ihnen.

Dilek Güngör: Vater und ich, Verbrecher Verlag, Berlin 2021, Hardcover 104 Seiten, Preis: 19,00 Euro

Womöglich ist es dieser Respekt vor den Feinheiten der Sprache, der Dilek Güngör zu einer guten Autorin macht. Eigentlich wollte sie Übersetzerin werden, hat Englisch und Spanisch studiert. „Ich war aber eine ganz schlechte Übersetzerin“, sagt sie. „Das Original hat mich immer zu sehr gefangen gehalten, ich konnte mich nicht davon lösen und ein eigenes Werk schaffen.“ Man kann sich die Vorsicht Güngörs gut vorstellen, die mitunter lange überlegt, bevor sie spricht.

Ihre Hände liegen vor ihr auf dem Tisch. Die Finger sind schlank, es sind keine Arbeiterhände, wie die ihres Vaters es sein müssen, der über 20 Jahre lang in einer Fabrik gearbeitet hat. Doch sind es gerade die Hände, die in „Vater und ich“ einen Ausweg aus der Sprachlosigkeit bieten. Konversation, das ist einfach nichts für Ipek und ihren Vater. „Also gebrauchen wir unsere Hände zum Reden“, heißt es gegen Ende des Romans, „sie wollen beschäftigt werden, etwas zu tun haben, etwas anfassen, etwas festhalten, und sei es ein Topf Reis.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.