Neuer Roman von Sven Regener: Herumrudern im Leben

In „Glitterschnitter“ baut Sven Regener den Herr-Lehmann-Kosmos in Richtung Punks und Frauen aus. Sein Schreiben zeugt von tiefer Menschenkenntnis.

Sven Regener.

Was ließe sich Besseres über Literatur sagen: Autor Sven Regener Foto: Charlotte Goltermann

Sven Regener hat ein neues Buch geschrieben. Um es gleich zu sagen: Dies wird eine Empfehlung. „Glitterschnitter“ ist eine Selbstverständlichkeit, wenn nicht ein Muss für alle, die sich bereits in Regeners Kosmos der lebens- und sonst wie künstlerisch ambitionierten Nichtsnutze hineingearbeitet haben. Alle anderen bekommen jetzt die nächste schöne Gelegenheit, mit einzusteigen.

Nur zur Orientierung, denn es ist mit der Zeitlichkeit in Regeners Büchern ein klein wenig wie bei „Star Wars“ – die erzählte Zeit ist eine andere als die Erscheinungsgeschichte: Seit dem krachenden Erfolg von „Herr Lehmann“ 2001 – übersetzt in x Sprachen, verfilmt und so weiter – erzählt Regener dazu teils die Vor- und teils die Nachgeschichte.

Zur Vorgeschichte zählt etwa das ebenfalls erfolgreiche „Neue Vahr Süd“. Zur Nachgeschichte gehört das melancholische (und doch so komische) „Magical Mystery oder: die Rückkehr des Karl Schmidt“. Vom Zeitpunkt des Mauerfalls, der in „Herr Lehmann“ das so großartig ignorierte historische Ereignis hinter dem Kreuzberger Tagesgeschäft von Herrn Lehmann abgibt, spult Regener also entweder vor oder zurück.

Auch in „Glitterschnitter“ wird noch gespult, denn Musik kommt von Musikkassetten, Maxell ist besser als BASF, es ist Ende 1980 und Frank Lehmann seit ein paar Wochen in Westberlin. Er hat die Frühschicht in Erwins „Café Einfall“ erobert, und Erwin lässt ihn auch mit ein paar anderen in der Wohnung überm Café in der Wiener Straße wohnen.

Verstecktes Lebensmotiv

Rein materiell, wenn auch bestenfalls halbbewusst, wird Lehmann ebenso wie seine Freunde und Bekannten davon angetrieben, sich keinesfalls dem offiziellen Westberliner Arbeitsmarkt aussetzen zu müssen. Die Vermeidung eines (vermeintlich) regulären Lebensunterhalts ist das versteckte Lebensmotiv in der WG ebenso wie bei der noch in Gründung befindlichen Band „Glitterschnitter“ und natürlich für die Leute aus der ArschArt-Galerie.

Eine denkbare politische Begründung – Ablehnung von kapitalistischen Verwertungslogiken oder Ähnliches – kommt bei ihnen allen denkbar kurz, und zwar vollkommen zu Recht. Es ist dies der liebevollen Einsicht geschuldet, dass Leute manchmal Lebensweisen anhängen, die als widerständig verstanden werden, sich nach außen auch bei Bedarf so darstellen – und doch gar nicht ganz selbst gewählt sind. Unfreiheit in Freiheit.

Wie gut also, dass es Immobilieneigentümer wie Erwin oder ArschArt-Galerist P. Immel gibt, um die herum man sich scharen kann, und sei es zum Zweck einer vorgetäuschten Hausbesetzung. P. Immel, der Österreicher mit Aktionskunst-Anspruch, möchte auch vor seiner Crew aus Mit- und Halb-Österreichern lieber als Hausbesetzer denn als Hausbesitzer gelten. Wobei er mit der Finanzierungsfrage der Community schon auch ringt: „Wir brauchen aber Geld von außerhalb. Wir können uns nicht gegenseitig Bier verkaufen und das dann austrinken, das haut ökonomisch nicht hin.“

Erst einmal aber hat P. Immel den Punks im Hinterhaus den Strom abstellen lassen. Doch die scheitern sogar noch daran – allerdings aus den richtigen Gründen –, den ArschArt-Leuten aus Rache einen Eimer Fäkalien ins Haus zu kippen.

„Bauern in einem subkulturellen Schachspiel“

(Nach aktueller Lesart mutet die Behandlung der Punks bei Regener übrigens reichlich diskriminierend an, punkfeindlich – punkistisch? – würde man heute vielleicht sagen. Doch in den 80ern waren sie eben die „Bauern in einem subkulturellen Schachspiel“, wie Raimund später sinniert, Stimmungs-Söldner, zuverlässig unkontrollierbar und betrunken und, in den richtigen Worten animiert, zur Beschäftigung von Bourgeoisie und Polizei wunderbar geeignet.

Sollte diese historische Funktion der Punks in den urbanen sozialen Kämpfen des ausgehenden 20. Jahrhunderts noch nirgends aufgearbeitet sein, wäre es unbedingt an der Zeit. Lesetipps werden gern entgegengenommen.)

Sven Regener: „Glitterschnitter“, Galiani Verlag, Berlin 2021, 480 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24 Euro

Gegen Zahlung der Stromrechnung jedenfalls lassen sich die Hinterhaus-Punks vom begüterten Künstler H.R. Ledigt für das erste Glitterschnitter-Konzert als Publikum anwerben. Sie sollen für die nötige Atmosphärenverdichtung sorgen, damit die Band subkulturelles Kapital für die „Wall City Noise“ aufbaut. Die gehört zur „Wall City Contemporary Arts 1980“, für die auch H.R. Ledigt ein Kunstwerk herstellen soll.

Die „Wall City“ ist aufgehängt beim Wirtschaftssenator, Abteilung Fremdenverkehr und Tourismus: Westberlin hat sich schon damals so aufdringlich als Avantgardeplatz vermarktet wie heute. Neben den profitvermeidenden Immobilienhaltern Erwin und P. Immel ist die „Wall City“ der zweite wirtschaftliche Fluchtpunkt von Regeners Sittengemälde. Hier winken Ruhm und Fördermittel, hierhin strebt das ganze Buch, und es wird jetzt nicht verraten, ob H.R. Ledigt schließlich dort ausstellen und Glitterschnitter schließlich dort spielen darf.

Post-pennälerhaften Macht- und Schaukämpfe

Wobei das große Wort „Handlung“ nicht geeignet scheint für das, was Regeners Bücher vorwärtstreibt. Denn auch in „Glitterschnitter“ wird auf 470 Seiten genau genommen nicht viel mehr als ein Bandauftritt vorbereitet. Doch gleichzeitig passiert eben so unendlich viel. In rascher Abfolge springt die Leserin in einen Gedankenstrom nach dem anderen, verfolgt die post-pennälerhaften Macht- und Schaukämpfe im ArschArt-Kollektiv und das Drama, in dem sich Chrissie und ihre Mutter aus Gründen des töchterlichen Erwachsenwerdens trennen.

Es fliegt uns das selbstzweifelnde, trotzige, doch immer bloß dazugehören wollende Menschsein um die Ohren, wo andere, also Außenstehende, solche, die nicht gerade Regener lesen, vermutlich nur einen Haufen Wichtignehmer und Großtuerinnen beim Nicht-aus-dem-Quark-Kommen sähen.

Apropos Großtuerinnen: Das Kapitel Frauen ist natürlich ein schwieriges. Getragen wird „Glitterschnitter“ wie alle Romane Regeners von dem klassischen Widerspruch, dass junge und nicht mehr ganz junge, im Verlauf dann immer weniger junge Helden sich auf die Reise begeben, eine Welt zu erobern, und dabei sich doch vor allem selbst erkennen – oder jedenfalls sich selbst klug zu beschreiben lernen. Es ist eine seit der Geburt des deutschen Entwicklungsromans männliche Geschichte.

Frauen werden auf dem Weg oft bewundert und sind meist rätselhaft, was auch bei Regener nicht anders ist – nur bieten seine Helden dabei eine Ironie und tiefe Harmlosigkeit auf, die jede halbwegs geneigte Leserin damit versöhnen müsste, dass wir vornehmlich in männliche Abgründe schauen und dabei an sehr jungsigem Nonsense-Humor teilhaben dürfen.

Doch das ist neu: Wir hören in „Glitterschnitter“ erstmals auch Frauen beim Selbstgespräch zu. Es mag dies ein Zugeständnis sein, dass ein gutes Buch eigentlich mehrere Perspektiven braucht, und Regener patzt nicht.

Warum keine Literaturpreise?

Es ist ein Rätsel, dass Regener für seinen Kreuzberger Zyklus nicht längst haufenweise Literaturpreise eingesammelt hat. Denkt irgendwer, der Mann macht doch schon (mit Element of Crime) erfolgreich Musik, der braucht nicht auch noch Buchpreisgelder?

Es gibt überhaupt niemanden, der die Geheimnisse der linken Subkulturen, der urbanen Coolness und des allgemeinen Im-Leben-Herumruderns so warm, so loyal, und gleichzeitig so komisch aufgeschrieben hat wie Regener. Was und wie er schreibt, zeugt von tiefer Menschenkenntnis. Was ließe sich Besseres über Literatur sagen.

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