Was die Gegenwart vom Jahr 2005 längst trennt

Notizbuch: Was hat sich eigentlich im Literarischen geändert, seitdem Merkel Kanzlerin wurde? Vieles

Als Angela Merkel, die nun bald als Politikerin Geschichte sein wird, zum ersten Mal vom Deutschen Bundestag zur Bundeskanzlerin gewählt wurde, im Herbst 2005, war gerade ein paar Wochen vorher zum ersten Mal der Deutsche Buchpreis verliehen worden. Sowohl an der Amtszeit Merkels als auch an den Veränderungen im deutschsprachigen Literaturbetrieb kann man sehen, wie lange das ist: 16 Jahre. Wie es vorher gewesen ist, das kann man sich selbstverständlich noch vorstellen – doch zugleich ist es weit weg, Vorgeschichte, eine andere Zeit. Seitdem ist es eben viel passiert.

Arno Geiger bekam 2005 den ersten Deutschen Buchpreis. Auf der Longlist standen lustigerweise zwei Autoren, die aktuell auch auf der Longlist stehen, Gert Loschütz und Franzobel. Daniel Kehlmann verkaufte 2005 „Die Vermessung der Welt“ wie wild. Wolfgang Herrndorf, dessen Roman „Tschick“ erst 2010 herauskam, war dagegen noch ein Gerücht. Aber mit solchem Namedropping bekommt man die Veränderungen seitdem sowieso nicht zu fassen. Verändert haben sich nämlich die Struktur des Literaturbetriebs und der Status des Romanschreibens selbst. Suhrkamp war noch in Frankfurt. Das Feuilleton hatte sich schon in Halle getroffen, um über die eigene Schrumpfung zu reflektieren, aber Schirrmachers Erweiterungen des Feuilletons waren noch der Maßstab. Die Büchnerpreise gingen in dieser Zeit an Granden wie Kluge, Genazino, Kronauer (immerhin eine Frau), Pastior, Mosebach. Literaturwissenschaftliche Arbeiten zum Poproman hatten noch die Aura von etwas Neuen.

Das ist viel „noch“. Vor allem aber: Vom Begriff der Autofiktion hatte noch niemand etwas gehört. Von sich selbst, seiner Herkunft und seinen Erfahrungen zu erzählen lief höchstens unter „creative non-fiction“, „Bücher ohne Familiennamen“ oder „Essay“ und galt im Mainstream noch als vermessen und irgendwie als ungehörig. Knausgard hatte sich noch nicht an sein autobiografisches Projekt gesetzt (Band 1 erschien in Norwegen 2009), und Annie Ernaux' Bücher waren entweder noch nicht übersetzt oder schon übersetzt, aber erfolglos geblieben. #MeToo war noch nicht dagewesen, Twitter auch nicht. Gerade der Trend zum Auto­fiktionalen trennt uns sehr vom Jahr 2005, verbunden mit einer immensen Zunahme von Sprecherpositionen und mit der Entwicklung, dass sich die Hotspots und idealtypischen Wohnorte deutschsprachiger Nach­wuchs­au­to­r*in­nen von Berlin-Prenzlauer-Berg (Stichwort Arztsohn) hin zu Berlin-Neukölln (Stichwort Superdiversität) verschoben.

Über Angela Merkel gibt es schon eine lesenswerte Biografie. Was aber die Literatur betrifft, so werden aus irgendeinem Grund kaum noch Überblickstexte über das aktuelle Programm hinaus geschrieben, und wenn, dann ist oft noch die alte Bundesrepublik mit ihren Kritikerempfängen der Bezugspunkt. Warum eigentlich? Schon das Jahr 2005 ist von heute aus gesehen weit weg. Dirk Knipphals