Neuer Roman von Ulf Erdmann Ziegler: Erzählen ohne Mandat

Was bringt es, die nahe politische Vergangenheit in der Fiktion noch mal neu zu beobachten? „Eine andere Epoche“ sucht darauf eine Antwort.

Mensch im Anzug in Hintergrund, im Vordergrund Mikrofone von Fernsehsendern

Ziegler nähert sich der Politik, ihren Skandalen, ihren bestimmenden Figuren und ihrem Betrieb Foto: Raphael Huenerfauth/imago-images

Männer, die sich im Spiegel betrachten, das gibt es jetzt öfter. In Heinz Strunks aktuellem Roman „Es ist immer so schön mit dir“ erblickt der mittelalte Protagonist in seinem Spiegelbild vor allem Anzeichen des Verfalls. Das ist nicht erstaunlich, denn für Strunk ist alles Verfall, nihilistischer als in diesem trotzdem sehr komischen Roman war er außerdem selten.

In Ulf Erdmann Zieglers neuem Buch „Eine andere Epoche“, in dem es gleich zwei solcher Spiegelszenen gibt, sieht die Sache etwas anders aus. Als junger Mann empfindet und denkt der Held, er trägt den seltsamen Namen Wegman Frost, beim Anblick seiner selbst dies: „Um Mitternacht besah sich Wegman in seinem abgeschlossenen Zimmer nackt im Spiegel, band seine Haare hinter dem Kopf wie ein Mädchen und fand sich sehr schön. Er beschloss, in die Politik zu gehen.“

Und so geschieht es, nicht die Schönheit als solche, eher der Narzissmus ist wohl das, was den sich spiegelnden Mann zu dieser Entscheidung prädestiniert. Wegman Frost wird Politiker, für die SPD, anders als sein Jugendfreund Florian Janssen, der FDPler mit Vietnam-­Adoptions-Hintergrund, der es bis zum Vizekanzler gebracht hat. Für Wegman geht es dann leider deutlich weniger zügig voran, groß rauskommen wird er wohl nicht mehr.

Büroleiter ist er, eigentlich nur wissenschaftlicher Mitarbeiter, wenn man es genau nimmt, beim ehrgeizigen SPD-Bundestagsabgeordneten Andi Nair. Der hat gerade ausgesprochen viel Aufmerksamkeit, als Vorsitzender des (von heute aus muss man sagen: ersten) NSU-Untersuchungsausschusses. Auch Nair hat Migrationshintergrund, sein Vater war Inder, aber auch ohne diese Information sollte klar sein: Ulf Erdmann Zieglers Buch will ein Schlüsselroman sein.

Schlüsselroman ohne Verschlüsselung

Wobei im Prinzip gar nichts verschlüsselt ist, denn die Zuordnungen sind völlig eindeutig: Florian Janssen „ist“ Philipp Rösler, Andi Nair der nachmals (auch im Roman) wegen nie wirklich substanziierter Kinderpornografievorwürfe aus der Politik wie der Öffentlichkeit verschwundene Ex-SPD-Hoffnungsträger Sebastian Edathy.

Fiktiv werden sie vor allem durch die biografische Verbindung mit der zu Romanzwecken erfundenen Protagonistenfigur, durch den sie mehr oder minder private Vorgeschichten bekommen. Andere, nebenbei zum Beispiel mal Joschka Fischer, tauchen unter richtigem Namen auf, die NSU-Mörderbande erst recht.

Wirklich interessant wird die Sache nicht als Schlüsselroman, sondern erst wenn man die Frage umdreht: Also nicht herauszufinden versucht, wer im Roman wer aus der Wirklichkeit ist, sondern ganz grundsätzlich überlegt, was das eigentlich soll oder bringt, die Wirklichkeit nun noch einmal in der Fiktion nachzuerzählen und um rein der Fantasie Entsprungenes – Figuren, Plot, Liebesgeschichte – zu ergänzen.

Schließlich ist das alles noch gar nicht lange her und also bis in die Details hinein noch erinnerlich: die NSU-Morde, der Ausschuss, die Korruptionsvorwürfe gegen Christian Wulff, die schmutzigen Gerüchte über seine Frau (sogar der Journalist Holger Schmale von der Berliner Zeitung, der sie in Umlauf brachte, wird mit Namen genannt), Wulffs Rücktritt, die Amtsübernahme durch Gauck, der im Roman nur „der Pastor“ genannt wird.

Politroman aus dem Zentrum der Macht

Am großen Berliner Politroman, nahe an dessen Realitäten erzählt, hat sich kein Geringerer als Rainald Goetz versucht und wurde kontrovers diskutiert – seither wird jede*r, der oder die es ihm gleichtut, sich an „Johann Holtrop“, Goetz’ Verschiebung des Gegenwartsromans in die Sphäre der Wirtschaft, messen müssen. Ulf Erdmann Ziegler geht zu Beginn des Romans mitten hinein: in die Büros des Bundestags.

Platziert seine Figuren, liefert in der erlebten Rede Erklärtext zu den Mechanismen der Politik und ihres Betriebs. Erzählt wird anfangs im Präsens, mit der U-Bahn rumpeln wir hinauf in den Prenzlauer Berg, wo Wegman Frost lebt.

Dann aber schaltet die Erzählung zurück: vom Modus des Präsens ins Präteritum. Die Prosa, die die Erwägungen ihres Helden in Sachen Liebe und Politik, seine Beobachtungen der anderen und seiner selbst präsentiert, verfährt die meiste Zeit psychologisch-realistisch.

Es wird zurückgeblendet in die Bückeburger Vergangenheit, auf Anfänge, die sich nun fortsetzen. Es geht um seine eigentümliche Herkunft, er ist der Sohn einer Deutschen und eines Native American, den diese in einem Künstlerdorf namens Hope (sic!) kennengelernt hat.

Christian Wulffs Spießertum trifft auf NSU

Der Essayist Ziegler geht jedoch mehrfach dazwischen. Etwas vornehmer als Goetz, der im „Johann Holtrop“ die Figurenperspektive immer wieder unverblümt kommentierend hinter sich lässt. Es werden Träume erzählt, da gehen die Zeichen und ihre Bedeutungen quer. Und es gibt den Bruch oder Sprung, heraus aus dem Präsens, dem Präsentieren, hinein ins Erwägen.

Ulf Erdmann Ziegler: „Eine andere Epoche“. Suhrkamp, Berlin 2021. 256 Seiten, 24 Euro.

In einem „Versuch über Häuser“ überschriebenen Einschub geht es um den Kontrast zweier Fotos. Das eine zeigt das des Bundespräsidenten in Großburgwedel, von vielen Kommentatoren als Inbegriff von Wulffs Spießertum verachtet. Das andere das ausgebrannte Haus des NSU-Trios in Zwickau. Die Zeichen der Zeit werden zu einem Beobachtungs-Denkbild verdichtet.

Und die Zeit selbst wird in manchen Passagen in einem Parlando-Chronikton präsentiert: „Die Banken sind gerettet. Limousinen werden exportiert. Mehltau der Beständigkeit senkt sich auf das Land, ein gewisser Grauton, mehr nicht.“

Das sind Passagen, die an ein anderes mögliches Vorbild in Sachen Politikbetriebsroman erinnern können: Wolfgang Koeppens „Treibhaus“ über die Bonner Republik. In dessen Zentrum stand ein SPD-Bundestagsabgeordneter. So weit ins Zentrum geht Ziegler nicht.

Der Romanautor ist kein Journalist, kein Historiker

Er nähert sich der Politik, ihren Skandalen, ihrem Räderwerk, ihren bestimmenden Figuren und ihrem Betrieb noch weiter vom Rand. Sein Wegman Frost ist ein vergleichsweise kleines Licht, und das ist auch Absicht. Es gibt einen zweiten großen Einschub, der auch eine Art Poetologie des Romans unternimmt, unter dem Titel „Versuch über Glück“.

Hier spricht der Erzähler und positioniert sich selbst, im Verhältnis zur Politik und zu seiner Figur, und er positioniert seine Figur in Relation zur Geschichte, von der hier erzählt wird. Dieser Erzähler sagt klipp und klar: „Der frühere Plan, Wegman selbst sprechen zu lassen, wurde verworfen. Selbst dann, wenn er die Vorderbühne betritt, ist seine Geschichte nicht wirklich Geschichte. Er hat kein Mandat.“

Es geht also, und das gilt für den ganzen Roman, um die richtige Positionierung und den richtigen Abstand. Für das literarische Schreiben über die Politik gibt es ebenfalls kein Mandat. Der Erzähler ist weder Journalist, der für sein Publikum Dinge herauszufinden versucht. Noch ist er Historiker, der seine Quellen genau recherchiert.

Der Romanautor erlaubt sich andere Formen von Distanz. Er erzählt vom Erfundenen und von einer Randfigur her. Und er sucht auch zeitlich Abstand, zehn Jahre liegen zwischen den zentralen Ereignissen des Berichts und unserem Heute. Wie man den Titel des Buchs, „Eine andere Epoche“, zu nehmen hat, bleibt dabei für Deutungen offen.

Eine Relektüre des kaum Vergangenen

Manches ist vorbei, die Politikkarrieren von Christian Wulff und Philipp Rösler. Das Versagen des Staats, das die Taten des NSU und deren Aufarbeitung offenbarten, bleibt schmerzlich virulent, davon erzählt etwa Shida Bazyar in einem anderen politischen Gegenwartsroman „Drei Kameradinnen“.

Ein Abschlussbericht ist Zieglers Buch aber sowieso nicht. Auch keine Revision. Eher eine Relektüre des kaum Vergangenen in einem etwas anderen Licht.

Die Fiktion wird zum Erkenntnisinstrument, indem sie Abstände einführt und so im Tagesgeschäft Untergehendes festhält und kenntlicher macht. Und indem sie zugleich privater und grundsätzlicher wird. Etwa in der zweiten Spiegelszene des Buchs, zum Jahreswechsel, in der Wegman Frost sich fragt: „Ob er eigentlich in einer guten Zeit lebt oder einer nicht so guten; ob es richtig war, den Platz einzunehmen, der ihm zugewiesen wurde.“

Es ist natürlich nicht so, dass der Roman seiner Figur oder der Leserin darauf klare Antworten gibt. Aber er sucht und findet doch eine Form für etwas, das wir alle als Wirklichkeit kannten, eine Form, die die zerfließende Zeit festhält und noch einmal anders beobachtbar macht, und sei es nur für den Moment.

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