„Ich kann nur mit Papier arbeiten“

Die chilenische Künstlerin Sandra Vásquez de la Horra gehört zu den bemerkens­wertesten Zeichnerinnen unserer Zeit. Im Sommer erhielt sie den Hans Theo Richter-Preis. Ein Gespräch über die Kunst zwischen den Kontinenten, magischen Realismus und Joseph Beuys

Sandra Vásquez, La voz de un pueblo que lucha, 2019 Foto: Sächsische Akademie der Künste

Interview Sebastian Strenger

taz: Sie sind in Viña del Mar vor den Toren von Valparaíso am Pazifik aufgewachsen. Wie war Ihre Kindheit?

Sandra Vásquez: Mein Großvater war Republikaner und mein Vater Atheist. Ich habe mich von jeher mit Religion befasst. Kunst hing in meinem Elternhaus nicht. Mit ihr bin ich erstmals in der Schule in Berührung gekommen. Auf dem italienischen Gymnasium bekam ich vor allem Zugang zur italienischen Renaissance. Das erste Gemälde sah ich im Alter von 12 Jahren, ein naives Bild des Literaten Pablo de Rokha im Elternhaus einer Schulfreundin. Meine Schule schloss ich mit 17 ab. Mit 18 Jahren bestellte ich in einer Buchhandlung meine erstes Kunstbuch, das aus Frankreich kommen musste, da es Bücher über Jean Dubuffet in Chile nicht gab.

Was war Ihr Schlüsselerlebnis, das Sie dann zur Kunst brachte?

Mit 19 Jahren besuchte ich in meiner Heimatstadt erstmals eine Kunstausstellung mit Grafik der 1970er Jahre. Vor allem Joseph Beuys war es, der mich dort beeindruckte. Ich wollte immer etwas Experimentelles machen, jedoch gab es in Valparaíso keine Kunstakademie. Also bin ich nach Santiago (de Chile) gegangen und habe dort Druckgrafik gelernt. Ich war dort auch ein Jahr auf der gerade neu eingerichteten Kunsthochschule.

Das war aber auch die Zeit der Pinochet-Diktatur (1973–1990). Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Ich ging in dem Jahr nach Santiago, als gerade die Volksbefragung (1988) zur Abschaffung der Diktatur stattfand. Ich wohnte dort im Haus des Präsidenten der Kommunistischen Partei Chiles, Tomás Moulian, der der Vater einer sehr guten Studienfreundin war und mich als seine zweite Tochter „adoptierte“, nachdem meine Familie mich in meinem Kunststudium nicht unterstützen wollte.

Hat Sie der Kommunismus in Ihrer Kunst geprägt?

Ja. Der Einfluss war groß. Ich konnte dadurch nicht in die materialistische Kunst einsteigen. Eine Jeff-Koons-Kunst wäre nicht gegangen. Das war auch der Grund, warum ich bis heute nur Papierarbeiten mache. Ich kann nur mit Papier arbeiten!

Sie wachsen Ihre Papierarbeiten. Was hat es damit auf sich?

Foto: Cordia Schlegelmilch

Sandra Vásquez de la Horra (*1967) verknüpft in ihrem bemerkenswerten zeichnerischen Werk die Traditionen und Mythen ihrer chilenischen Herkunft mit menschlichen Urerfahrungen und der europäischen Kulturgeschichte zu einer poetischen Bildwelt. Ihre Ausstellung „Geheimnis umhüllte Welt“ läuft noch bis zum 22. Dezember in der Sächsischen Akademie der Künste in Dresden.

Für mich ist dieses Vorgehen wie ein Schutz vor Feinden. Am Ende geht es immer darum, etwas zu schließen. Wenn du etwas abschließt, kannst du nicht weitermachen. Du hast der Arbeit eine Seele gegeben.

Das Wachs ist also ein Schlusspunkt?

Die Wirkung verändert sich; Grafit und Aquarell bewegen sich – alles wird viel malerischer. Die ausschließliche Zeichnung ist jedoch viel härter, mit dem Wachs kehrt aber Atmosphäre ins Bild ein. Bei Lichteinfall wirkt sie zudem transparent. Das Wachs macht aus den Zeichnungen Objekte und manche in der derzeitigen Preisträgerausstellung sind zudem auch beidseitig bemalt und wirken dreidimensional. Ich spiele mit den Möglichkeiten.

Heute ist Ihr Lebensmittelpunkt in Berlin. Wie kam Sie nach Deutschland?

Mit 28 Jahren habe ich den chilenischen Maler Ciro Beltrán geheiratet und wir gingen nach Deutschland. Er studierte damals in der Malerklasse von Konrad Klapheck an der Kunstakademie Düsseldorf. Meine Tochter Clara war acht Monate alt und es war zunächst nicht meine Entscheidung, hierher zu kommen. Ich fing dann aber an, mit Jannis Kounellis zu arbeiten. Krankheitsbedingt war ich dann in Chile. 2000 nahm ich bei Rosemarie Trockel mein Studium wieder auf.

Welche Einflüsse hatten Ihre Lehrer?

Klapheck hat mich in vielen Gesprächen den Realismus gelehrt. Jannis Kounellis hat meine Zeichnungen sehr geschätzt. Er meinte: Meine Zeichnungen sind sehr klein, aber monumental. Das hat mich vor allem deshalb gefreut, da er als sehr kritischer, aber auch ungerechter Mensch unter den Studenten galt. Aber ihm verdanke ich auch die Beschäftigung mit Bruce Nauman und dessen Dualität und Symbiose, wenn es um Identität geht.

Das Wachs macht aus den Zeichnungen Objekte, manche sind beidseitig bemalt, sie wirken dann dreidimensional

Worum geht es genau in Ihrer Kunst?

Mir geht es um das große Verschwinden. Das Essentielle für mich ist, friedlich zu sein und nicht wirklich aufzufallen. Ebenso wenig in meiner Kunst. Meine Bilder erzählen dabei dann auch von einer Welt, wie die unter Wasser. Denn wenn du unter Wasser bist, kannst du loslassen. Es hat mit dem Gefühl zu tun, nicht mehr kämpfen zu müssen und es einfach fließen zu lassen. Auch die Kunstwelt ist ein großer Kampf und ich wollte nie Teil dieser Kämpfe sein.

Ihre Bilder haben etwas vom Übergang des magischen Realismus zum Surrealismus …

Naturreligion hat viel zu tun mit Surrealismus und ich bin durch diese sehr stark beeinflusst. Ich habe dabei sehr viel von der Religion der Yoruba gelernt. Dafür hatte ich 2003 eine Initiation mit einer hohen Priesterin auf Kuba. All dies hat mit meinen Wurzeln in der Inka-Kultur zu tun. Durch die indigene Herkunft meiner Großmutter hat das großen Raum in meinem Werk gewonnen. Dazu gehört auch der Totenkult.

Der Totenkult als bildgebendes Element?

Die Populärkultur sieht im Tod immer noch ein Tabu. Anders also als im Mittelalter, als der Tod noch stärker Teil des Lebens war und zum Lebensstil gehörte. In meinen Bildern findet sich hier keine Trennung. In unserer Kultur feiern wir den Tod. Und innerhalb des Totenkults der Inkas gibt es viele Parallelen zum Katholizismus, wie etwa die Prozessionen. Allerdings wurden diese in Peru mit Mumien vollzogen.

Der Hans Theo Richter-Preis zählt im deutschsprachigen Raum zu den renommierten Kunstpreisen, die das Werk internationaler Künstler in den Bereichen Zeichnung und Grafik auszeichnet. Hierfür verleiht die Sächsische Akademie der Künste in Zusammenarbeit mit der Hildegard und Hans Theo Richter-Stiftung und dem Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden den mit 20.000 Euro dotierten Preis, der in der diesjährigen 12. Preisverleihung im Albertinum an die chilenische Künstlerin Sandra Vásquez de la Horra überreicht wurde.

Wie sind Sie mit Corona umgegangen?

Ich habe mich nicht impfen lassen. Ich glaube auch nicht so sehr an die Schulmedizin, als vielmehr an Naturmedizin. Ich habe die ganze Zeit nur Honig gegessen. Das ist meine tägliche Impfung und ich glaube bereits seit meiner Kindheit daran.

Honig, Bienen und Wachs. Finden Sie in den Insekten und ihren Produkten die gemeinsame Schnittmenge von Leben und Kunst?

Der Bauer auf der Finca meines Vaters war Imker. Ich bin mit Bienen aufgewachsen. Honig war unser Elixier. Übrigens auch meine Verbindung zu Joseph Beuys, der sowohl Honig, Bienen und Wachs in seiner Kunst einsetzte, ebenso wie einfachste Materialien, die verbunden waren mit Schamanismus, der auch in meinem Werk eine große Bedeutung hat. Genauso wie der Feminismus in der Kunst seine Bedeutung hat. Er war für viele Frauen der einzige Weg, das Recht zu haben, etwas zu sagen.