Angst und Armut in Afghanistan: Brutalstmögliche Unfähigkeit

Sie behaupten, „Ordnung zu schaffen“. Tatsächlich stürzen die Taliban das geschundene Land jedoch täglich tiefer ins Chaos.

Ein Familienvater in Kabul versucht, seine Habseligkeiten zu verkaufen

Ein Familienvater in Kabul versucht, ein paar Habseligkeiten zu verkaufen Foto: Joerg Silva/reuters

Zwei Monate nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ächzt die Bevölkerung unter der neuen Herrschaft. „Die Sicherheit ist jetzt besser, der Krieg ist vorbei“ – immerhin hätten die Taliban die verminten Straßen freigeräumt, meinte etwa der Vorstand einer Tadschiken-Gemeinde aus der Provinz Logar südlich von Kabul gegenüber der taz. „Aber dafür gibt es viele neue Probleme. Die Märkte sind offen, doch es fehlt an Arbeit. Vorher gab es Unterstützung von Hilfsorganisationen, jetzt nicht mehr. Außerdem herrscht Dürre und wir hatten keine Ernte. Die Menschen kämpfen mit der Armut.“

De facto kontrollieren die Taliban inzwischen das gesamte Land. Der letzte bewaffnete Widerstand gegen ihre Herrschaft blieb im Pandschirtal isoliert und brach schnell zusammen, das Parlament und zivilgesellschaftliche Organisationsstrukturen haben sich im Nullkommanichts aufgelöst, und auch machtgierige Warlords, die sich gegen die Taliban in Stellung bringen wollten, entpuppten sich schnell als Kolosse auf tönernen Füßen.

Wie die Regierungsarmee stieben auch die Truppen der Warlords vor dem Ansturm der Taliban auseinander, ihre Befehlshaber flohen ins Ausland. Angeblich hat sich eine Exilregierung aus Resten des Pandschir-Widerstands und den Warlords formiert, das teilte jedenfalls die dissidente afghanische Botschaft zuletzt mit. Doch auch eine solche Exilregierung wäre nur der Versuch, den Machtanspruch einer alten Elite zu verlängern. Einer Elite, die über Jahre ein System der Korruption gefestigt und damit maßgeblich zum Scheitern des Afghanistan-Einsatzes westlicher Truppen beigetragen hat.

Auch der afghanische Ableger des „Islamischen Staates“ ist keine wirkliche Bedrohung für die Taliban mehr. Ende 2019 hatten sich sogar die kleinen salafistischen Gemeinschaften Ostafghanistans vom IS-Mini-Kalifat gelöst und dafür sowohl die Taliban wie auch Regierungstruppen zur Hilfe gerufen. Strategisch stellt der Terror versprengter IS-Gruppen deshalb höchstens einen marginalen Störfaktor dar.

Im früheren Frauenministerium logiert jetzt die Moralpolizei

Binnen weniger Wochen schafften die Taliban etliche Frauenrechte ab. In einer ihrer ersten Amtshandlungen setzten sie die Geschlechtertrennung für die Universitäten in Kraft. In mehreren Provinzen schlossen sie Mädchenschulen, in Kabul lösten sie das Frauenministerium auf und quartierten in dessen Gebäude ausgerechnet die berüchtigte Moralpolizei ein. Frauenhäuser schickten aus Angst vor Repressalien ihre Bewohnerinnen zurück zu ihren Familien. Unternehmerinnen schließen oder verkaufen ihr Business, weibliches Behördenpersonal wurde aufgefordert, zu Hause zu bleiben – oder zieht das von sich aus vor, weil Gerüchte über Zwangsverheiratungen mit Talibankämpfern die Runde machen.

Andere Frauen erscheinen trotzdem noch an ihren Arbeitsplätzen, um sich den Anspruch auf ihr Gehalt zu bewahren. Die Taliban sagte zu, dieses auch an Frauen weiter auszuzahlen. Zugleich gingen sie jüngst immer wieder brutal gegen Demonstrantinnen vor, die ihre Rechte einforderten, auch gegen Journalisten, die darüber berichteten. Höchst widersprüchlich sind die Botschaften, ist die Lage: Die ins Exil gegangene Chefin der Unabhängigen Menschenrechtskommission, Shaharzad Akbar, sagte Mitte September, die Taliban hätten alle Büros ihrer Organisation übernommen und zum Teil Unterlagen vernichtet. Ein Talibansprecher erklärte indes, die Kommission könne weiterarbeiten.

Anfang Oktober berichtete Amnesty International, dass Talibankämpfer bei einer Schießerei in der Zentralprovinz Daikundi zwei frühere Regierungssoldaten, einen Zivilisten und ein 17-jähriges Mädchen getötet und anschließend neun weitere Regierungssoldaten erschossen hätten. Ähnliche Vorfälle wurden im August aus den Provinzen Ghasni und Kandahar gemeldet. Ebenfalls aus Daikundi berichtete im September die Kabuler Zeitung Hasht-e Sobh, dass örtliche Taliban Bauern vertreiben würden, die zur schiitischen Minderheit der Hasara gehörten. In Kandahar warfen sie Familien von Soldaten der früheren Regierungsarmee aus ihren Wohnungen.

Talibankommandeure aller Levels können in ihrem jeweiligen Einflussbereich offenbar machen, was sie wollen – wohl auch deshalb sind die neuen Herrscher nicht in der Lage, das Land geordnet zu regieren. In Kabul demütigten Talibankämpfer öffentlich junge Männer, die Jeans trugen. In einigen Provinzen verboten sie Männern, sich zu rasieren, und Frauen, Handys zu benutzen oder ohne männliche Begleitung auf die Straße zu gehen. Dass Talibanführer wiederholt erklärten, solche Praktiken entsprächen nicht der offiziellen Politik, ändert an solchen Schikanen nichts. Sicherheitsanalysten in Kabul sprechen von einem „Mangel an Polizeiarbeit“, auch gegenüber den eigenen Leuten.

Auch Gangster geben sich als Taliban aus

Das schafft eine ungute Art von Freiräumen. Einwohner Kabuls sagten der taz, die Kriminalität nehme wieder zu, nachdem eine anfängliche „Atempause aus Angst vor den Taliban“ schnell wieder verflogen sei. Kriminelle oder inländische Flüchtlinge bewaffneten sich, gäben sich mitunter als Taliban aus und durchsuchten in deren Namen Häuser früherer Regierungsmitglieder oder konfiszierten Autos. Private Rechnungen aus 20 Jahren eines allseits brutal geführten Krieges werden jetzt beglichen, obwohl die Talibanführung versprach, dies nicht zuzulassen.

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Entgegen früherer Ankündigungen greifen die Taliban auch nicht auf den Verwaltungsapparat der vorherigen Regierung zurück, um das Land am Laufen zu halten. Es herrschen nun überwiegend Mullahs. Bis hinunter zu den Abteilungsleitern schickten sie all jene nach Hause, die sie als „politisches Kaderpersonal“ der Vorgängerregierung betrachten. In den Ministerien, so Augenzeugen, fänden sich jetzt vor allem bewaffnete Männer ohne administrative Erfahrung. Taliban-Hochschulminister Abdul Baki Hakkani bezeichnete die Absolventen des modernisierten Bildungssystems der vergangenen 20 Jahre sogar als „nutzlos“.

Vereinzelt gibt es jedoch auch gegenläufige Tendenzen. Ende voriger Woche sendete etwa der private afghanische Fernsehkanal Tolo TV Bildmaterial, nach dem zumindest in drei Provinzen in Nord­afghanistan Mädchenschulen wieder geöffnet sind, „von Klasse eins bis zwölf“. Ende September hatte das UN-Kinderhilfswerk Unicef für die Ostprovinz Kunar auf Initiative der dortigen Talibanbehörden zugesagt, 500 Schnelllernzentren zu finanzieren, um kriegsbedingten Rückstand aufzuholen. Schon 2020 hatte Unicef in Aussicht gestellt, in Talibangebieten die Zahl der sogenannte gemeinschaftsbasierte Schulklassen, die oft in Privathäusern oder Moscheen untergebracht sind, von 680 auf 4.000 aufzustocken, ausdrücklich auch für Mädchen.

Unterdessen leidet die Bevölkerung in Folge von De-facto-Sanktionen unter einem Wirtschaftskollaps, der sich von Tag zu Tag weiter verschärft. Die US-Regierung hat nach der Machtübernahme der Taliban die afghanischen Auslandsguthaben eingefroren, die sich auf neun Milliarden US-Dollar belaufen sollen. Regierungen von Geberländern, darunter die deutsche, stellten ihre Entwicklungszahlungen ein, aus denen zuvor oft auch die Gehälter für Angestellte der Regierung und von diversen Nichtregierungsorganisationen bestritten worden waren, und beschränken sich nun auf die humanitäre Nothilfe.

Kein Bargeld, kein Brot, kein Strom

Das führte zu akuter Bargeldknappheit. Vor den Banken bilden sich lange Schlangen. Kontenbesitzer kommen nur an Teile ihres Ersparten, Importeure lebenswichtiger Waren können ihre Lieferanten nicht bezahlen. Die Landeswährung Afghani verliert an Wert. Die Lebensmittelpreise sind massiv gestiegen, laut EU teilweise um über 50 Prozent.

Das trifft eine Bevölkerung, die ohnehin schon zu vier Fünfteln unter der Armutsgrenze lebt. Familien versuchen, Haushaltsgegenstände zu Geld zu machen. Der Inhaber eines Bekleidungsgeschäfts im Hauptbasar von Kabul sagte der taz, er bekomme „kaum noch das Brot für meine Familie zusammen“. Es gebe kaum Käufer, viele Geschäfte hätten bereits geschlossen. Laut Weltgesundheitsorganisation arbeiten derzeit nur noch 17 Prozent aller Kliniken, weil die Hilfsgelder versiegen.

Nun droht auch ein Kollaps der Energieversorgung. 70 Prozent des afghanischen Strombedarfs werden aus dem Ausland gedeckt, aber die Taliban können die von der Vorgängerregierung übernommenen Schulden von 90 Millionen US-Dollar bei den Lieferanten Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan nicht bezahlen. Ein Arzt aus Wardak berichtete, er müsse Entbindungen im Licht von Taschenlampen durchführen, weil das Geld für Diesel für den Generator fehle. Das UN-Entwicklungsprogramm UNDP warnte bereits: Bis Mitte nächsten Jahres könnten 97 Prozent der Af­gha­n:in­nen in Armut leben.

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