Für die, die sich im Wal befinden

Wir brauchen eine neue Aufklärung: Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels

Dangarembga geht es in ihren Werken um das Recht auf ein menschenwürdiges Leben Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Von Tsitsi Dangarembga

Vor knapp vierhundert Jahren schrieb ein Franzose einen langen Absatz über die Natur der Gewissheit, das heißt über Erkenntnis ohne Zweifel. Einen Satz dieses langen Abschnitts kennen wir alle. Es ist der Satz „Ich denke, also bin ich“, einer der berühmtesten und bekanntesten Sätze der westlichen Philosophie. In dieser Konzeptualisierung der Welt ist „Ich denke“ der einzige unwiderlegbare Beweis, den eine Person von ihrer Existenz hat. Alle anderen Beweise könnten falsch sein. „Ich denke“ bezeugt das „Ich bin“ oder die Existenz einer Person, und diese Position wurde als „Ich denke, also bin ich“ formuliert.

Für mich, die ich das Glück hatte, dass mir seit meiner Kindheit neben dem westlichen ein anderes Erkenntnissystem zugänglich war, mehr aufgrund von Erfahrungen als intellektuell, sind die Gefahren dieser Epistemologie unübersehbar. Erstens ist dieser berühmte Satz, wie weithin anerkannt, nur eine kurze Version dessen, was ursprünglich formuliert wurde. Die ursprüngliche Formulierung bezog die nützliche Natur des Zweifels beim Zustandekommen von Wissen mit ein: Ich zweifle, also denke ich, also bin ich.

Aber genau die Denkprozesse, die eigentlich Erkenntnis durch Zweifel gewinnen sollten, weigerten sich zu zweifeln und optierten stattdessen für die Gewissheit von „Ich denke, also bin ich“, die Version, die heute allgemeine philosophische Währung ist. Was bewirkt diese allgemeine philosophische Währung? Denken heißt, ein Selbstgespräch führen. Ein Selbstgespräch besteht einerseits aus einem Prozess – wie sprechen wir mit uns; und andererseits aus dem Inhalt – was sagen wir uns. Den Prozess des eigenen Denkens oder Selbstgesprächs mit Sein gleichzusetzen führt zu mehreren Fehlern in unserer Erkenntnis. Zwei von ihnen möchte ich erwähnen, die besonders relevant sind für mein Gefühl, wie Jona im Wal zu sein. Beide Fehler nehmen Bezug auf Unterschiedlichkeit.

Nicht unser Geist

Betrachten wir einen Geist, der nicht unser eigener ist. Nehmen wir an, dass dieser Geist, der nicht unser eigener ist, einen anderen Inhalt hat als unserer; oder dass er ein anderes System benutzt, um Inhalt aufzurufen und zu arrangieren und somit Bedeutung herzustellen; oder dass er sich von unserem eigenen Geist sowohl durch den Inhalt als auch durch die Denkweise unterscheidet. Diejenigen, die glauben, dass in der Welt zu sein und in der Welt zu erkennen auf dem „Ich denke“ beruhen, können sehr leicht zu dem Schluss kommen, dass ein Geist, der sich anderer Inhalte und anderer Prozesse der Kombination von Inhalten bedient, überhaupt nicht denkt und also überhaupt kein „Ich“ darstellt.

Nehmen wir nun an, dass dieser Geist, der nicht der eigene ist, einen Körper hat. Es ist leicht zu verstehen, dass dieses körperliche Wesen, das nicht man selbst ist, das nicht so denkt wie man selbst und von dem es deswegen heißt, dass es nicht denkt, sehr wahrscheinlich in uns den Inhalt „Es denkt nicht, also ist es nicht“ aufruft. Da jemand, der „Ich denke, also bin ich“ denkt, sich selbst als Mensch betrachtet, wird jemand anders, der anders denkt, als nicht wie ich oder nicht als Mensch wahrgenommen. Wie wir wissen, hat die Aberkennung des menschlichen Werts anderer Menschen den Effekt, den menschlichen Wert zu erhöhen, den wir uns selbst zuschreiben; und wir wissen auch, dass dieser Mechanismus der differenziellen Zuschreibung von Menschlichkeit für einen Großteil der Gewalt verantwortlich ist, mit der die Menschen einander heimsuchen.

Ich weise darauf hin, nicht um die Aufklärung zu diskreditieren. Es fällt mir, die keinen persönlichen direkten Bezug zur Geschichte Europas und ihrem Narrativ hat, sehr schwer, mir vorzustellen, wie das Leben hier während des dunklen Mittelalters war und wie sehr die gedankliche Revolution, die die Aufklärung war, gebraucht wurde. Mir geht es darum, meine Stimme denen hinzuzufügen, die sagen, dass die Aufklärung der vergangenen Jahrhunderte abgelaufen ist und wir alle auf diesem Planeten heute dringend eine neue Aufklärung brauchen.

Die Erkenntnisse der vergangenen Jahre und Jahrhunderte reichen nicht aus. Sie haben uns nicht gerettet. In meinem Teil der Welt war der Kern unserer Lebensphilosophie die Idee „ich bin, weil du bist“, jetzt als Philosophie des Ubuntu anerkannt. Diese Philosophie wird noch immer in Begrüßungen wie „Mir geht es gut, wenn es dir gut geht“ ausgedrückt, aber auch diese Philosophie hat uns nicht gerettet.

Wir müssen neue Gedanken entwickeln, sie aus den Ecken des Universums ziehen, wo sie entstehen, um den Paradigmenwechsel zu bewirken, der unsere Art und Weise bestimmt, wie wir Erkenntnis erlangen, Wert und Bedeutung zuschreiben, die für unser Überleben notwendig sind, während unsere Ozeane verschmutzen, die Ozonschicht dünner wird, sich das Klima wandelt, Temperaturen und Meeresspiegel ansteigen, trotz wissenschaftlichen Fortschritts Krankheiten wüten, Hunger herrscht und schwarze Körper im Meer ertrinken auf dem Weg zu denen, die zuerst zu ihnen segelten, und in dieser Zeit ständig zum Opfer dessen werden, was Fortschritt genannt wird.

Denkmuster verändern

Es wird keine Wunderheilungen für unsere gedanklichen Fehler geben. Was wir tun können ist, unsere Denkmuster zu verändern, Wort für Wort, bewusst und beständig, und daran festzuhalten, bis wir Ergebnisse sehen in der Weise, wie wir Dinge tun und welche Folgen sich daraus ergeben. Ich möchte vorschlagen, dass eine Möglichkeit, wie die Menschen in Deutschland dazu beitragen können, darin besteht, das Denken über das N-Wort zu verändern. Ich habe gehört, dass es hier weiterhin einen Streit gibt über die Natur des N-Worts und ob es an sich gewalttätig ist, sodass die, die sich dafür entscheiden, es zu benutzen, sich nicht für einen gewaltsamen, sondern nur für einen faktischen Inhalt entscheiden.

Zugleich bezeugen die, die das Objekt derjenigen sind, die das N-Wort benutzen, die gewaltsame Natur des N-Worts. In diesen Fällen haben wir die Wahl, ob wir das „Ich“ von „Ich denke“ hochschätzen oder über das „Ich“ hinausschauen zu dem „Wir“ im Inhalt unserer Gedanken. Über das „Ich“ hinauszuschauen zum „Wir“ könnte zu horizonterweiternden Neuformulierungen des Satzes des Franzosen führen, zum Beispiel zu „Wir denken, also sind wir“ oder sogar zu „Wir sind, also denken wir“ und mit Letzterem den Ort der Hochschätzung vom rationalen „denken“ zum empirischen „sein“ verschieben.

Dies ist der zweite Teil der Rede, die Tsitsi Dangarembga gestern bei der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche hielt. Der erste Teil handelt von kolonialer Gewalt und der globalen Struktur, die diese Gewalt geschaffen hat. Auch die postkoloniale Gewalt in ihrer Heimat Simbabwe wird erwähnt. Die ganze Rede ist greifbar auf www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de. Tsitsi Dangarembga wurde 1959 geboren und ist Schriftstellerin und Filmemacherin. In der Literataz vom 18. 10. erschien ein ausführliches Porträt. Auf Deutsch kommen ihre Romane im Orlanda-Verlag heraus.

Das Gefühl, mich im Bauch des Wals zu befinden, betrifft vielleicht nicht nur mich. Mir wird zunehmend klar, dass wir alle im Bauch des Wals unseres derzeitigen Paradigmas sind. Im Gegensatz zu Jona werden wir nicht ausgespuckt werden, da wir das Paradigma, in dem wir leben, selbst geschaffen haben. Wir haben es mit unseren Entscheidungen konstruiert, gemäß dem, was wir für Erkenntnis und Gewissheit halten. Wenn überhaupt, werden wir dort nur durch unsere eigene Entscheidung herauskommen, diese Konstruktionen zu zerlegen und nachhaltige andere zu bauen.

Unsere Entscheidung, was und wie wir denken, ist letztlich eine Entscheidung zwischen Gewalt oder Frieden fördernden Inhalten und Narrativen. Das gilt, ob wir diese Inhalte und Narrative in Gedanken nur für uns selbst formulieren oder ob wir sie anderen um uns herum mitteilen. Beides ist fruchtbar.

Die Beziehung zwischen Gedanken, Narrativen, Gewalt und Frieden ist es, die den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels so bemerkenswert macht. Der deutsche Buchhandel würdigt, dass Symbole, die Wörter, die in Büchern stehen, in unseren Gedanken aktiv werden und sie beeinflussen mit der Folge, dass die Wörter, die in Büchern stehen, eine Rolle in der Ausbildung unserer Tendenzen zu entweder Frieden oder Gewalt spielen können.

Der deutsche Buchhandel hat sich entschieden, diese Inhalte, Wörter und Narrative zu ehren, die ein friedliches Verstehen der Unterschiede, die wir zwischen uns wahrnehmen, fördern. Dass jemand wie ich, der in nicht so ferner Vergangenheit aufgrund von demografischen Kriterien im schlimmsten Fall als nicht denkend, im besten Fall als nicht auf eine wertvolle Weise denkend und deshalb auf nicht wertvolle Weise existierend kategorisiert wurde, heute diesen Preis erhält, bezeugt die Fähigkeit für Wandel, die wir Menschen haben.

Aus dem Englischen von Anette Grube