In der lyrischen Plantage

Totengespräch mit Dichterkönigen: Norbert Lange reanimiert mit Jack Spicer den Orpheusmythos inklusive lässig-ironischer Exkurse – „Unter Orangen“

Norbert Lange: „Unter Orangen“. Gedichte. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2021, 128 Seiten, 20 Euro

Von Michael Braun

Der Ruf des unwiderstehlichen mythischen Sängers Orpheus hat schwer gelitten, seit ihn Klaus Theweleit in seinem „Buch der Könige“ (1988) als zwielichtige Gestalt porträtierte, die über Frauenleichen geht. Der thrakische Magier war einst in die Unterwelt hinabgestiegen, um mit seinem betörenden Gesang die Mächte des Hades zu sedieren und seine geliebte Eurydike ins Leben zurückzuführen.

Aber er hat bekanntlich versagt. Es besteht also kein Grund für heutige Lyriker, ihm mit allzu großer Ehrfurcht entgegenzutreten. So hat denn auch der amerikanische Lyriker Jack Spicer (1925–1965) sehr viel zur Demontage des mythischen Sängers beigetragen, als er ihn in einer Reihe von Gedichten um 1960 zur sehr irdischen, narzisstischen und fehleranfälligen Gestalt profanierte.

Nach Spicers Vorstellung ist es nicht der Dichter, der seine Texte komponiert, sondern es ist das Gedicht selbst, das den Dichter erfindet. In Anlehnung an Jean Cocteaus Film „Orphée“ (1949) glaubte Spicer, dass seine Gedichte die Ergebnisse von „Transmissions“ von außen seien. Poesie erweist sich gewissermaßen als okkulte Botschaft aus dem Jenseits.

Diese kreativen Verwandlungsprozesse hat sich nun der Berliner Dichter und Jack-Spicer-Übersetzer Norbert Lange in seinem neuen Gedichtband „Unter Orangen“ angeeignet und daraus eine überaus vergnügliche Eigenkomposition gezaubert. Der 1978 geborene Lange versteht seine Poesie seit je als „Quellenkunde“, als das Übermalen kanonisch gewordener Urtexte. Seine Quellen findet er vor allem bei amerikanischen Rhapsoden wie Charles Olson und Jerome Rothenberg. In seinen gesammelten „Orangen“ hat er nun mit Jack Spicer einen Partner gefunden, der gewissermaßen von seinem Übersetzer Besitz ergriffen hat. Denn hier startet Lange einen intensiven Dialog mit dem toten Dichter, indem er Spicer-Motive in drei verschiedenen Modi transformiert.

Der erste Teil des Buches ist eine mehr oder weniger freie Übersetzung und Fortschreibung der Orpheus-Gedichte von Spicer. Im umfangreichen zweiten Kapitel montiert Lange aus der Anverwandlung weiterer Dichterstimmen (Blaise Cendrars, Fernando Pessoa u. v. a.) eine kleine Galerie moderner Lyrikerexistenzen, die hier als „Orangen“ firmieren. Beim symbolträchtigen Orangen-Motiv stand weniger Gottfried Benn Pate, der einst in seiner Schrift „Doppelleben“ (1950) anmerkte, seine „absolute Prosa“ sei „orangenförmig“ gebaut, da sie wie die einzelnen Fruchtteile nicht in den Raum strebe, sondern „in die Mitte“.

In Langes lyrischer Orangen-Plantage war wohl wiederum Jack Spicer der Ideengeber – nur dass im Spicer’schen Original Zitronen eine weit größere Rolle spielen: „Kind-Poeten waren die Orangen eigentlich.“

Lange montiert eine kleine Galerie von Dichterstimmen und modernen Lyrikerexistenzen

Im dritten und abschließenden Teil kapert Lange ein weiteres Spicer-Projekt. Dieser hatte 1957 seine Sammlung „After Lorca“ veröffentlicht, einer Reihe angeblicher Übersetzungen Federico García Lorcas mit einem fingierten Vorwort Lorcas. Komplementär dazu hat sich Lange Briefe des toten Spicer an ihn als seinen Übersetzer ausgedacht. Diese Briefe sind höchst anregende Freibeuterschriften, da sie weder den Dichterberuf noch den Dichter selbst allzu ernst nehmen.

Als geheimer Refrain dieser lässig-ironischen Exkurse wird die Begegnung von Friedrich Gottlieb Klopstock und Christian Morgenstern vorgeführt: „Schon gehört? Gestern sind sich Morgenstern und Klopstock in die Haare geraten und aufeinander geraten und aufeinander losgegangen.“

Mit solchen heiteren Respektlosigkeiten ist Nobert Langes Orpheus- und Jack-Spicer-Adaption reichlich ausgestattet. Orpheus’ Trip in die Hölle vollzieht sich als moderne Tragikomödie.