Unglück online

Das Kollektiv punktlive erzählt die „Möwe“ von Tschechow mit den Mitteln der sozialen Netzwerke

Von Katja Kollmann

Kostja lacht ausgelassen. Neben ihm sitzt seine Freundin Nina, die in die Kamera lächelt, und Mascha, sein bester Freund. Kostja hat das Foto auf Instagram hochgeladen: „Golden Night. Frankreich“ gefällt 24 Mal. Kostja studiert Regie an der Universität der Künste in Berlin, verrät sein Instagram-Account. Ninas Status auf Instagram: große Erwartungen und ein Sonnen-Emoji. Ein Foto zeigt Nina vor der berühmten Otto-Falckenberg-Schauspielschule. Sonst Selfies und Bahnhöfe. Ein Foto ist anders: Zu sehen ist eine Möwe, die im Flug innezuhalten scheint.

Punktlive, vor gut einem Jahr schlagartig bekannt geworden durch „werther.live“, führt sein Konzept der „Social-Media-Inszenierung“ fort mit „möwe.live“ und wird hierbei unterstützt durch das Staatstheater Nürnberg. Liebevolle, mit klugem Blick auf die ProtagonistInnen erstellte Instagram-Profile sind ein wichtiger Bestandteil des Regiekonzepts. Denn Tschechows Figuren sollen in der Lebensrealität des 21. Jahrhunderts ankommen. Nils Hohenhövel, Klara Wördemann und Jonny Hoff sitzen als Kostja, Nina und Mascha zu Hause vor ihren Laptops, haben Twitter, Instagram und Whatsapp gleichzeitig offen und kommunizieren, also spielen live. Regisseurin Cosmea Spelleken sitzt mit der Cutterin in Wien und beide koordinieren das Ganze.

Die SpielerInnen verändern das Set zu Hause kontinuierlich. In diesen „Umbaupausen“ läuft ihr Film von einem gemeinsam in Frankreich verbrachten Sommer. So entsteht ein Puzzle aus digitaler Gegenwart und eingestreuten Vergangenheits-Schnipseln.

Eingeführt wird die Digital-Inszenierung durch das bewegte Bild einer kleinen Gruppe von entspannt spazierenden Menschen. Sekunden später wird eine tote Möwe am Wegesrand gefunden. Cut. Kostja sitzt zu Hause und telefoniert mit seiner Mutter. Es geht unter anderem um einen Therapieplatz.

Faszinierend ist in den folgenden zwei Stunden mitzuerleben, wie die Figuren ein eigenständiges Leben entwickeln, das zu 100 Prozent dem heutigen Kontext entnommen ist und wie sie trotzdem Kontakt halten zu ihren VorgängerInnen aus dem späten 19. Jahrhundert. Dieser Spagat gelingt punktlive durch Genauigkeit. Nina, bei Tschechow eine erfolglose Provinz-Schauspielerin, macht heute die bekannte Odyssee durch die deutschsprachigen Schauspielschulen – von einem Vorsprechtermin zum nächsten.

Mascha, bei Tschechow eine unglücklich verliebte junge Frau, wird zu Kostjas bestem Freund. Der bekommt mit Katja, der Grundschullehrerin aus Leidenschaft (Instagram), ein Kind und ist überfordert. Kostja selbst denkt über neue Theaterformen nach. Er wird in der Öffentlichkeit wahrgenommen und erkennt, dass auch Ruhm der Existenz keinen Sinn verleiht. Er ist ein einsam Suchender, ein unglücklich Liebender, der sich durch Gedichte von Thomas Brasch scrollt und aufschreibt, was er Nina und seiner Mutter alles mitteilen möchte und es doch nie tut.

Bewegend ist, wie im kongenial verwendeteten Jugendidiom, das Lässigkeit demonstrieren soll, das Existenzielle seinen Weg findet. Ich höre die SchauspielerInnen atmen, seufzen und weinen, während sie tippen. Als Nina und Kostja sich zu einem Videotelefonat verabreden, sind beide nebeneinander auf meinem Bildschirm. Nina rezitiert den Schlussmonolog der „Möwe“ von Tschechow. Nils Hohenhövel lässt Kostja beim Zuhören schmerzerfüllt lächeln. Das geht unter die Haut. Ich sehe ihm zu, wie er danach den Laptop ausmacht. Und weiß, er macht ihn nie wieder an. Stiller kann man nicht von einem Selbstmord erzählen.

Wieder am 21. Dezember