Mit erschütternd zärtlicher Präzision

Angesichts des Todes ihrer Eltern betreibt die Autorin Maren Wurster eine literarische Archäologie des Verlustes und erforscht genau hinsehend das Abschiednehmen: „Vater stirbt, Mutter auch“

Orthopädische Schuhe, Kabel, Linoleum: Gedanken an ein Heim Foto: Fo­to:­ Pris­ca Martaguet

Von Eva Behrendt

Gleich auf den ersten Seiten beschreibt Maren Wurster ihren Vater auf der Intensivstation. Das hinten offene Krankenhaushemd, die bunten Kanülen und Schläuche, die seinen Körper mit den Geräten verbinden, und auch das fingernagelgroße Loch zwischen Brust und Bauch; laut Krankenschwester hat er sich dort einen Leberfleck abgerissen. „Darunter irgendwelche Schichten. Fett, Muskeln, Sehnen. Durch deine Atmung, dadurch, dass sich der Bauch bewegt, dehnt sich das Loch oval auseinander. Ich mag nicht so genau hinsehen.“

Doch genau das tut die Autorin des Memoirs „Papa stirbt, Mama auch“ auf den folgenden 155 Seiten. Sie sieht und fühlt genau hin, als erst die Mutter an Demenz, etwas später der Vater an Krebs und den Folgen seiner Alkoholsucht erkrankt. Und sie beobachtet sich selbst dabei, wie sie das Sterben der Eltern begleitet.

Deren plötzliche Bedürftigkeit überwältigt Maren Wurster zu einem Zeitpunkt, als sie selbst Hilfe gebrauchen könnte. Sie ist mit 39 spät Mutter geworden und bereits kurz nach der Geburt alleinerziehend; zwei Jahre später, 2017, erscheint ihr erster Roman „Das Fell“. Von Großeltern, die der Tochter mal das Enkelkind abnehmen, kann keine Rede sein: Mama weicht nicht mehr von Papas Seite, „sie spürt, dass sie die Verbindung zur Welt verliert und nur noch dir vertrauen kann. Mir nicht. […] Zu Recht. Ich bin es, die sie weggeben und aus dem Pflegeheim davonrennen wird.“

Bald ist der trinkende Vater heillos überfordert, und die Tochter transferiert erst die eine, dann den anderen aus dem bereits verwahrlosten schwäbischen Einfamilienhaus in ein Berliner Pflegeheim, managt Haushaltsauflösung, Wohnsituation und medizinische Versorgung.

Teile des Textes sind an den Vater adressiert, bei der Mutter gelingt ihr das nicht. Nur einmal spricht sie beide gemeinsam an, problematisiert dabei das nonfiktionale Schreiben: „Ich verwandle euch in Objekte, zeige euch, wie ihr euch niemals sehen würdet, erfahre etwas über euch, was ihr nicht erfahren werdet. Ich beschreibe ­Szenen, die ihr nicht autorisiert habt.“

Die Differenz zwischen Vater und Mutter und der jeweiligen Beziehung zu ihnen zieht sich durch das ganze Buch. Wurster erzählt die Kindheiten der Eltern mit: Während der Vater auf dem Land, geborgen in einer feierfreudigen Großfamilie mit vielen Geschwistern, „großzügig“ groß werden durfte, prägen Bombenterror und Entbehrung im Stuttgart der letzten Kriegsjahre und Nachkriegszeit die frühe Kindheit der Mutter.

Eine Anekdote von der Großmutter, die vor den Augen ihrer hungrigen Kinder eine Tafel Schokolade Rippe um Rippe aufisst, ohne auch nur ein Stückchen abzugeben, bringt die Brutalität dieser Zeit auf den Punkt. Ein Schatten dieser Härte fällt auch auf Maren Wurster als Kind, wenn ihre Mutter sie allein zu Hause zurücklässt, um Einkäufe erledigen zu können. Aus Pragmatismus, nicht ahnend, dass unstillbare Muttersehnsucht zu einem Leitmotiv im Leben der Tochter wird.

Wie man lebt, so stirbt man auch, lautet eine Binse. Und tatsächlich ist der Vater am Ende „auf wundersame Weise wieder zufrieden“, umgeben von Freunden und Verwandten, die anrufen, zu Besuch kommen, sich gerne kümmern. „Und Mama ist, als wiederholten sich auch bei ihr angelegte Strukturen, unverbunden und allein.“

Obwohl das an den Vater gerichtete „du“ eine größere Nähe, Wärme und Offenheit spüren lässt, zeigen die Schilderungen der Mutter, die unberechenbar wird in ihrem Verhalten, die streng riecht, weil sie sich nicht mehr waschen lassen will, eine ungeheure Entschlossenheit, diese Mama gerade dann zu sehen und nicht loszulassen, wenn sie alle abstößt. Wurster trifft dabei einen intimen Ton, der vorwurfs- und wertungsfrei ist, gleichzeitig durchlässig für die eigenen Empfindungen.

Ausgerechnet in der Pandemie, als Begegnungen nur mit Ganzkörperschutz erlaubt sind,

kommt sie durch Latexschichten hindurch ihrer Mutter nahe

Obwohl die Erzählerin mitunter Gedanken von Roland Barthes oder Susan Sontag, Paul de Man oder Michel Foucault aufgreift, um sich die eigenen Schreib- und Verarbeitungsstrategien zu erklären, bleibt „Papa stirbt, Mama auch“ mehr dem Literarischen als dem Essay verhaftet. Wurster erinnert sich an Sommerurlaube und Klassenfahrten, manchmal überglänzt von einer fast Sufjan-Stevenshaften Melancholie, betrachtet Fotos und imaginiert die gemeinsame Zeit der Eltern als Liebespaar vor ihrer eigenen Geburt.

Mithilfe dieser „Archäologie des Verlusts“, wie sie es nennt, erforscht sie durch die Eltern sich selbst und das Abschiednehmen und findet eine Form, die der erlebten Überwältigung entspricht: im dichten Verweben der Zeitschichten, die sie nach wiederkehrenden Motiven durchsiebt, in der erschütternd zärtlichen Präzision, mit der sie die Menschen beschreibt, die Hilfe brauchen (aber auch jene, die sie tatsächlich pflegen), im konsequenten Gebrauch des Präsens, der unmittelbarsten Zeitform.

Am Ende macht auch noch Corona die Besuche im Heim kompliziert, ja grotesk, zumal als die Mutter positiv getestet wird und die Einrichtung immer mehr einem Hochsicherheitstrakt gleicht. Ausgerechnet jetzt, wo Begegnungen nur mit Ganzkörperschutz erlaubt sind, kommt sie durch Latexschichten hindurch ihrer Mutter nahe, kann sie sogar wieder umarmen.

Der Tod selbst wird nicht erzählt. Aber immer engmaschiger werden die Wechsel zwischen Jetzt und Früher. Bis irgendwann jeder einzelne Satz delirierend zwischen den Orten und Zeiten springt, Erinnerung und Erleben gleichzeitig stattfinden in einer utopischen Szenerie, in der Mutter und Vater, Tochter und Enkel losgelöst von Zeit und Raum zusammen sein können.

Maren Wurster: „Papa stirbt, Mama auch“. Hanser Berlin, Berlin 2021, 158 Seiten, 20 Euro