Attentat in Hanau: „Wir mussten da alleine durch!“

Angehörige der Mordopfer erzählen vor dem Hanau-Unteruchungsausschuss, wie es ihnen nach der Tat erging. Kaum Hilfe vom Staat.

Menschen halten Porträts der Opfer hoch

Die Angehörigen der Opfer von Hanau bei ihrer Mahnwache vor dem hessischen Landtag am 3.Dezember Foto: Arne Detert/dpa

WIESBADEN taz | „Der Täter war psychisch krank und hatte eine Waffe, er hat es im Internet angekündigt, er hat telefoniert – warum hat niemand darauf geachtet?“ Auch 22 Monate nach dem rassistisch motivierten Mord an ihrem Cousin Kaloyan Velkow hat Vaska Zlateva, „mehr Fragen als Antworten“.

Zlateva ist die erste Zeugin aus dem Kreis der Angehörigen der Hanauer Mordopfer, die der Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags anhören wird: Wäre es zu verhindern gewesen, dass ein Neonazi und Waffennarr am 19. Februar 2020 in einer Shisha-Bar und eine halbe Stunde später in einem Kiosk in Hanau neun junge Menschen erschießen konnte? Er zielte auf sie wegen ihres Aussehens, weil er sie für Ausländer hielt.

Welche Fehler wurden vor der unfassbaren Tat gemacht und von wem und welche unmittelbar danach? Die Angehörigen fühlen sich nach wie vor allein gelassen mit ihrem Verlust und klagen deshalb an, auch an diesem Tag mit einer Mahnwache vor dem Landtagsgebäude.

Eineinhalb Stunden gewährt am Freitag als erste Vaska Zlateva den Abgeordneten einen Einblick in die Abgründe, die sich für sie und ihre Familie nach dem Mord an ihrem Cousin aufgetan haben. „Er nannte mich Schwester, ich war seine Familie und er meine,“ sagt die 36-jährige alleinerziehende Mutter zweier Kinder. „Ich fühle mich schuldig, weil ich ihn nach Deutschland eingeladen habe“, sagt sie. Sie habe gedacht, Deutschland sei ein guter Staat.

„Wie in einem Horrorfilm“

Auch 22 Monate danach ist die Nacht vom 19. Februar präsent. Um 20.46 Uhr habe sie zum letzten Mal mit ihm telefoniert. Ihr Cousin, der tagsüber LKW fuhr, half auch an diesem Abend als Kellner in der Bar aus, der in dieser Nacht zum Tatort wurde. „Leg dich hin Schwester, du musst morgen früh aufstehen!“, seien seine letzten Worte gewesen.

Um Mitternacht ruft ein Kollege an, mit dem sie am Flughafen zusammenarbeitet. In Hanau seien acht Menschen erschossen worden, „es ist schrecklich!“, habe der Kollege gesagt und ihr geraten, nicht vor die Tür zu gehen. Doch sie ruft ein Taxi und eilt vom gemeinsamen Wohnort Erlensee zum Hanauer Heumarkt. Vor der Bar, in der ihr Cousin jobbt, Einsatzfahrzeuge, Polizei, Absperrungen, „wie in einem Horrorfilm“, sagt die Zeugin.

Einen der vielen Beamten habe sie gefragt, ob auch ein Bulgare unter den Opfern sei. Der habe nur von einem Türken gewusst. Um Mitternacht versammelt die Polizei schließlich in einer Halle in Lamboy die Menschen, die fürchten müssen, dass ihre Angehörigen unter den Opfern sind.

Erst am frühen Morgen, gegen sechs Uhr gibt es die schreckliche Gewissheit. Ein Polizeibeamter liest die Namen der Opfer vor. „Der meines Cousin kam an dritter oder vierter Stelle“, erinnert sich die Zeugin. „Es gab Kaffee und Wasser!“ Ob mit ihr in dieser Nacht irgendwer von den Behörden persönlich geredet oder Hilfe angeboten habe, wollen die Abgeordneten wissen. „Nein“ ist die Antwort.

Besuch vom Botschafter

Zu Hause in Erlensee sagt sie der Tante, die in dieser Nacht ihren Sohn verloren hat, Kaloyan sei verletzt und liege im Krankenhaus. Eine Polizeibeamtin hilft ihr Stunden später, der Mutter die Todesnachricht zu überbringen. Sechs Tage lang sei die Familie mit ihrer Not allein geblieben. „Wir mussten da alleine durch“. Dann seien der bulgarische Botschafter, der Hanauer OB und Vertreter des Ausländerbeirats gekommen, um ihr Beileid auszusprechen.

Zwischen Kaloyan Velkows Tod und seiner Obduktion lagen mehr als 40 Stunden, das wissen die Abgeordneten aus den Akten. Doch niemand hat offenbar seine Angehörigen um ihre Einwilligung gebeten. „Man wusste, dass die Menschen ermordet worden waren, was soll eine Obduktion?“ fragt Vaska Zlateva.

Erst durch einen Abgeordneten erfährt sie bei ihrer Zeugenbefragung, dass ihrem Cousin entnommene Organe nicht in dem Sarg waren, der eine Woche nach seinem Tod überführt wurde. „Er wurde als erster erschossen und als letzter begraben; wie einen Korb hat man ihn hin und her getragen, über Griechenland nach Bulgarien, in welchem Land leben wir?“, fragt seine Cousine.

Neuer Opferfond in Hessen

In den Wochen nach der Tat hat sie ihren Job verloren, weil sie nicht arbeiten konnte. Eine CDU-Stadträtin habe ihr später geholfen, einen neuen zu finden, in dem sie allerdings weniger verdiene. Die Überführung und die Flüge nach Bulgarien seien bezahlt worden, sonst habe sie keine Unterstützung bekommen, weder vom Bund, noch von der Stadt oder dem Land, versichert sie.

Gegen Ende der Befragung fragt der FDP-Abgeordnete Jörg-Uwe Hahn etwas fassungslos, ob ihr denn niemand von den Offiziellen geraten habe, einen Rechtsanwalt einzuschalten, der ihre Interessen vertreten könnte. Hahn ist Jurist und war in Hessen Justizminister. „Das ist eine gute Idee“, sagt Zlateva, aber das habe ihr niemand vorgeschlagen.

Der Vorsitzende Marius Weiss, SPD, verbindet schließlich den Dank für ihren eindrucksvollen Beitrag zur Arbeit des Untersuchungsausschusses mit der Empfehlung, sich an den Opferfond zu wenden, den der hessische Landtag inzwischen eingerichtet hat. Seit dieser Woche können Opfer von Gewalttaten in Hessen Unterstützung beantragen, auch die Angehörigen der Mordnacht von Hanau, 22 Monate nach der Tat.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Am 19. Februar 2020 erschoss der Rechtsextremist Tobias R. an drei verschiedenen Tatorten in der Hanauer Innenstadt neun Menschen:

Kaloyan Velkov, ermordet mit 33 Jahren.

Fatih Saraçoğlu, ermordet mit 34 Jahren.

Sedat Gürbüz, ermordet mit 30 Jahren.

Vili Viorel Păun, ermordet mit 22 Jahren.

Gökhan Gültekin, ermordet mit 37 Jahren.

Mercedes Kierpacz, ermordet mit 35 Jahren.

Ferhat Unvar, ermordet mit 22 Jahren.

Hamza Kurtović, ermordet mit 22 Jahren.

Said Nesar Hashemi, ermordet mit 21 Jahren.

Später ermordete der Attentäter seine Mutter Gabriele R., 72 Jahre alt.

Mit der taz Bewegung bleibst Du auf dem Laufenden über Demos, Diskussionen und Aktionen gegen rechts.

Hier erfährst du mehr

Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

■ Ein Attentäter erschoss in München im Jahr 2016 auch aus rassistischen Gründen neun Menschen.

■ Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde 2019 getötet. Der Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.

■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.