Flüchtlinge in der Weihnachtsgeschichte: Nackter Überrest des Fremden

Wandern, fliehen, migrieren, sich niederlassen, heimisch werden – die Solidarität mit Flüchtlingen ist von jeher die Grundlage aller Ethik.

Flüchtlinge an der Grenze von Belarus zu Polen im November 2021

Flüchtlinge an der Grenze von Belarus zu Polen im November 2021 Foto: Dmitry Lebedev/Polaris/laif

Es hat sich eingebürgert, die Weihnachtsgeschichte – jedenfalls wie sie im Evangelium des Lukas erzählt wird – als eine Geschichte von Flüchtlingen zu erzählen.

Doch ganz so einfach ist es nicht, denn: Tatsächlich schildert jedenfalls Lukas den offiziellen Vater des Jesus, Joseph, als einen höchst loyalen Bürger des Römischen Reiches, als einen Mann, der eigens aus seinem Wohnort, aus Nazareth, in das durchaus weiter gelegene Bethlehem reiste, um sich dort einer von den – mit den Römern kooperierenden – herodianischen Behörden angeordneten Steuerschätzung zu unterziehen. Nicht zuletzt deshalb, weil es dem Mann aus Nazareth wichtig war, auf seine vornehme Herkunft aus dem Hause Davids – also aus Bethlehem – zu verweisen.

Dass er, seine Frau Maria sowie das soeben geborene Jesuskind in einem Stall domizilierten, verweist nicht unbedingt auf Flucht und Armut – denkbar ist auch, dass sich in dem zum Kaff heruntergekommenen Bethlehem (zu Deutsch „Brothausen“) schlichtweg kein Gasthaus mehr fand.

Dass das alles dennoch mit Flucht und Verfolgung zu tun hat, erhellt erst aus dem Evangelium des Matthäus, in dem nicht nur erzählt wird, wie drei hochmögende Persönlichkeiten (die „Weisen aus dem Morgenlande“) dem neugeborenen Kinde huldigten, sondern auch, wie der damalige Autokrat der Provinz Judäa unter dem Vorwand, dem neugeborenen Kinde auch huldigen zu wollen, in Wahrheit plante, es umzubringen.

Matthäusevangelium

Im Evangelium des Matthäus beginnt die Fluchtgeschichte jedenfalls so: „Als sie [die drei Könige; M. B.] hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach:,Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage: denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen.'“ (Matthäus 2,13)

Als der Autokrat erfuhr, dass die Familie des Joseph nicht mehr auffindbar war, ließ er vor Wut alle Knaben in Bethlehem und Umgebung, die jünger als zwei Jahre waren, ermorden.

Joseph und seine Familie aber befanden sich schließlich in Ägypten in Sicherheit – in einem Land, das schon Abraham und seinen Nachkommen als Hungerflüchtlingen Obdach geboten hatte. Der mörderische Herodes aber starb schließlich im Jahre 4 v. Chr. unversöhnt mit der Welt; nach wie vor mordgierig, ließ er noch zuvor Hunderte jüdische Männer verhaften und im Hippodrom von Jericho einsperren.

Letzte Worte des Herodes

Der Historiker Flavius Josephus berichtet in seinem „Jüdischen Krieg“ von des Herodes letzten Äußerungen: „Ich weiß, dass mein Tod ein Freudenfest für die Juden sein wird. Ich habe aber die Macht […], eine prächtige Totenfeier zu erhalten. […] Soldaten sollen jene verhafteten Männer umstellen und im Augenblick meines Todes töten, damit jede Familie in Judäa wider ihren Willen über mich weine!“ Die überlebende Schwester des Herodes, Salome, aber missachtete diesen Befehl und ließ die Männer frei.

Nach Herodes’ Tod aber zog Joseph mit seiner Familie – immer noch ängstlich und vorsichtig – nicht nach Judäa, sondern in den Norden, nach Galiläa, nach Nazareth. Auffällig an dieser Geschichte sind die immer wieder deutlichen Hinweise auf das Pharaonenreich als Zufluchtsort, einen Ort, in dem bereits der Hungerflüchtling Abraham eine Bleibe fand – einen Ort aber auch, der – wie später die Moses- und Exodusgeschichte berichtet – von Missbrauch und Ausbeutung der Flüchtlinge erzählt.

Man kann es sich nicht deutlich genug vor Augen halten: diese alttestamentlichen Texte, nicht die Evangelien, sind ungefähr gleichzeitig mit der Odyssee beziehungsweise der Mär vom trojanischen Krieg entstanden; sie sind etwa dreitausend Jahre alt und handeln vor allem von Flucht und Verfolgung.

Dreitausend Jahre später – im Jahr 1943 – schrieb die Philosophin Hannah Arendt, die am eigenen Leibe erfahren musste, was es heißt „Flüchtling“ zu sein, einen ihrer ersten bahnbrechenden Aufsätze, den sie „Wir Flüchtlinge …“ nannte.

Hannah Arendt über Flüchtlinge

Die selbst vertriebene und geflohene Jüdin, die sie war, beschloss ihren Aufsatz so: „Die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge repräsentieren die Avantgarde ihrer Völker – wenn sie ihre Identität aufrechterhalten. Zum ersten Mal gibt es keine separate jüdische Geschichte mehr; sie ist verknüpft mit der Geschichte aller anderen Nationen. Und die Gemeinschaft der europäischen Völker zerbrach, als – und weil – sie den Ausschluss und die Verfolgung ihres schwächsten Mitglieds zuließ.“ So weit Arendt im Jahre 1943.

So auch die italienische Philosophin Donatella di Cesare. Sie erweitert in ihrem Buch „Philosophie der Migration“ die Dialektik von Heimat, Wohnen, Flucht und Vertreibung global, denn: Menschen wohnen nicht nur: nein, bevor sie wohnen, also auf bestimmte Dauer an einem Ort bleiben, sind sie zu diesem Ort gewandert und werden dort eben heimisch oder nicht. Man mag diese Menschen weit gefasst als „Migranten“ bezeichnen, indes: hinter diesem Oberbegriff verbergen sich die Begriffe von Flüchtlingen, Exilanten, Emigranten, Remigranten sowie Reisenden und Nomaden und eben „Wirtschaftsflüchtlingen“.

Nicht zuletzt dieser Begriff dient Di Cesare zum Beweis dafür, dass die gern getroffene Unterscheidung von Wirtschaftsflüchtlingen und politisch Verfolgten nicht trägt: impliziert diese Unterscheidung doch, dass die Verarmung ganzer Kontinente keine politischen Ursachen habe.

Blickt man tiefer, so kommt man auf den nicht nur von dem Philosophen Georg Simmel entfalteten Begriff des „Fremden“, sondern eben auf den – oft genug verächtlich so genannten – „Migranten“. Dieser ist der in der Weltgesellschaft seiner Sakralität beraubte Heimatlose.

Die italienische Philosophin Donatella di Cesare

„Als nackter Überrest des Fremden“, so Di Cesare, „hat der Migrant den Bezug auf das Anderswo verloren und findet deshalb auch keinen Zugang mehr zum Hier. Im beispiellosen globalen Kampf um einen Platz ist er deplatziert und ortlos. Seine schlichte Präsenz kann seine Existenz nicht rechtfertigen.“

Dabei geht es Di Cesare gerade nicht – wie der analytischen Philosophie – darum, Kriterien zu entwickeln, welche und wie viele „Migranten“ in einem Territorialstaat aufgenommen werden können.

Vielmehr geht es ihr um den Nachweis, dass jedenfalls die auf der Bibel beruhenden Prinzipien der westlichen Zivilisation nach wie vor ungebrochen aktuell sind, entnimmt sie doch der Hebräischen Bibel das Prinzip, das Grundlage aller Ethik sein sollte: „Einen Fremdling sollst du nicht bedrängen, […] seid ihr doch selbst Fremde gewesen im Land Ägypten“, wie es im biblischen Buch Exodus, 23,9 heißt.

Daraus schließt sie, dass „fremd sein“ und „Wohnen“ dialektisch aufeinander verwiesen sind: „Wenn der Fremde auch immer ein Wohnender ist, bleibt der Einwohner umgekehrt auch stets ein Fremder. Wohnen heißt, fremd zu bleiben.“

Europa – unser heutiges Europa – sollte mithin ein Kontinent der Ankunft, der Gastfreundschaft für die Fremden werden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.