Kulturhauptstadt Kaunas: Das Badehaus inmitten der Stadt

2022 ist das litauische Kaunas europäische Kulturhauptstadt und sucht eine neue Identität. Zusätzlich findet eine Biennale statt.

Frauen fotografieren eine Kunstinstalltion , schwarz-weiße Gräber

„Your Who Never Arrived“, die Installation von William Kentridge im Museum in Kaunas Foto: Alexander Welscher/dpa

KAUNAS taz | Eigentlich lautet sein Namen anders, zumindest der seiner Vorfahren, Kantrovich, nicht Kent­ridge. Angeglichen wurde er, zur besseren Verständlichkeit. William Kentridge, 1955 in Johannesburg geboren, stammt aus einer litauisch-jüdischen Familie, die Ende des 19. Jahrhunderts vor drohenden Pogromen im zaristischen Russland aus dem Fürstentum Litauen nach Südafrika geflohen ist.

Kentridge selbst hat nie in Litauen gelebt. Prägend sei diese Herkunft, so ist es an verschiedenen Stellen in der Literatur und in Interviews zu lesen, für ihn dennoch. Trotz weißer Haut sei er als Jude stets als anders wahrgenommen worden.

Für den international renommierten Künstler steht jetzt demnächst die erste große Ausstellung in Litauen an. In Kaunas, als ein Höhepunkt des Programms zum europäischen Kulturhauptstadtjahr 2022. Die Ausstellung Kentridges allein sei es wert, sich auf die Reise nach Kaunas zu machen und sie werde die Stadt auf Jahre hinaus auf die kulturelle Landkarte Europas setzen. So steht es im Katalog von „Kaunas 2022“.

Auf Jahre hinaus Strahlkraft bewahren, nicht nur für das eine Jahr, in dem man den Titel trägt, das ist der große Traum, den Städte und Regionen mit der Auszeichnung als Kulturhauptstadt Europas verbinden. Trotz aller finanziellen und logistischen Herausforderungen.

Esch-Alzette und Novi Sad sind ebenfalls Kulturhauptstadt

Und trotz aller komplizierten Entscheidungen. Darüber, welches Bild man vermitteln will. Und wie dabei gleichermaßen das internationale wie das lokale Publikum angezogen werden soll. Mit jemandem wie Kentridge? Vielleicht.

Kaunas ist nach Vilnius die zweitgrößte Stadt Litauens und trägt in diesem Jahr gemeinsam mit dem luxemburgischen Esch-Alzette und dem serbischen Novi Sad den Titel Kulturhauptstadt Europas. Kaunas ist eine Stadt mit wechselvoller Geschichte. Kurzzeitig war sie Hauptstadt des Landes, als nach dem Polnisch-Litauischen Krieg Vilnius besetzt war. Von 1920 bis 1940 war das, 20 Jahre lang also. „From Temporary to Contemporary“ – der Slogan von Kaunas 2022 bezieht sich darauf.

Virginija Vitkienė, Direktorin des Programms, bezeichnet die zwei Dekaden als Kaunas’ „Goldene Zeit“. Die Stadt wuchs an, mehr als 6.000 Gebäude entstanden, Kulturstätten, Universitäten, Banken, Krankenhäuser, Privathäuser. Es ist ein architektonischer Schatz, modernistische Bauwerke, in die sich der Optimismus der damaligen Zeit einschrieb. Dann sind da aber auch noch die anderen Geschichten, die traumatischen, über die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung während des Holocaust, die Sowjetbesatzung.

Kaunas 2022 will über all das sprechen, um den Titel bewarb sich die Stadt entsprechend nicht mit Stärken, sondern verwies auf das, woran es ihr mangle: an Identität, Offenheit, einer lebendige Kultur.

William Kentridge im M.-­K.-Čiur­lio­nis-­Kunst­mu­seum

Was also zeigen? Von den „Kronjuwelen der zeitgenössischen Kultur“ ist in der PR zu lesen und einem das ganze Jahr andauernden Festival. Welches die hochkarätigsten Klunker im Geschmeide sind, daran lässt Kaunas wenige Wochen vor dem Start des Kulturhauptstadtjahrs, bei einem Besuch auf Einladung des litauischen Kulturinstituts, keine Zweifel.

Immer wieder sind es dieselben Gesichter, die von Plakatwänden und Bildschirmen leuchten, immer wieder Marina Abramović, Yoko Ono und eben William Kent­ridge. Kaunas will es sich nicht leicht machen, macht es einem aber auch nicht ganz leicht, seine Entscheidungen nachzuvollziehen. Warum Abramović? Warum Ono? Was die beiden mit Kaunas’ neuer oder alter Identität zu tun haben sollen, erschließt sich nicht.

Zu se­hen gibt es in Kaunas eindeutig genug, auch ohne Megastars von anderswo

Also lieber zurück zu Kent­ridge. Gezeigt wird dessen Ausstellung im Nationalen M.-­K.-Čiur­lio­nis-­Kunst­mu­seum, Litauens ältestem und größtem Kunstmuseum, untergebracht in einem imposanten Art-déco-Bau, dessen Besuch sich auch unabhängig von Kentridge unbedingt empfiehlt, allein schon, um die Gemälde des namensgebenden Malers und Komponisten Mikalojus Konstantinas Čiurlionis anzuschauen. Zu sehen gibt es in Kaunas eindeutig genug, auch ohne Megastars von anderswo.

Was die zeitgenössische Kunst betrifft, schob sich Litauen 2019 ein paar Reihen nach vorn, als bei der Venedig Biennale die Künstlerin Lina Lapelytė, die Regisseurin Rugilė Barzdžiukaitė und die Autorin Vaiva Grainytė für Litauen den goldenen Löwen für den besten Länderpavillon erhielten.

13. Ausgabe der Kaunas Biennale

Aktuell zeigt Lapelytė bei der 13. Ausgabe der Kaunas Biennale, die seit ihrer Eröffnung im November quasi das Präludium zu Kaunas 2022 bildet, (und noch bis 20. Februar läuft) eine sich über drei Stockwerke ziehende Videoinstallation im sogenannten „Devil’s Museum“. Absolut sehens- und hörenswert, ist Lapelytė längst nicht die einzige litauische Küns­tle­r*in, die man spätestens jetzt kennenlernen sollte.

Aber nicht wegen des Löwen: „Es war nicht so, dass Venedig einen Boom in der litauischen Kunstszene ausgelöst hätte, sondern andersherum: Der Boom war da und Venedig war das Resultat“, sagt Augustas Serapinas, Jahrgang 1990.

Informationen zum gesamten Programm gibt es unter kaunas2022.eu

Er war damals bei der Venedig Biennale im Jahr 2019 der jüngste unter den teilnehmenden Künst­le­r*in­nen und ist jetzt auch bei der Kaunas Biennale dabei, mit einer Arbeit, die man übersehen könnte, wenn man nicht aus Kaunas stammt, und die einen komplett verwirren könnte, wenn man es tut.

Serapinas hat ein mehr als 100 Jahre altes ehemaliges Badehaus in die Stadtlandschaft gestellt. Es steht direkt hinter dem „House of Basketball“, eine der Spielstätten der Biennale, wie ein Ufo aus einer Fake-Vergangenheit. Das Spiel mit Authentizität, die Frage, was bewahrt werden sollte und was nicht, Räume, Orte, die verschwunden oder vom Verschwinden bedroht sind, das sind Serapinas’ Themen – die nur zu gut zum Konzept von Kaunas 2022 passen.

Krise beim Nachbarn Belarus und Handelskonflikt mit China

Hinter der Kaunas Biennale steht keine Institution, zu jeder Ausgabe müssen sich die Beteiligten neu strukturieren – auch finanzieren. Flexibel mag das klingen, vor allem aber nach prekären Bedingungen. Dieses Jahr ist das offensichtlich anders, die Partnerschaft mit Kaunas 2022 und weiteren Partnern macht es möglich.

Das zeigt sich an der Ausstellung, aber auch hinter den Kulissen: Die Biennale zahlt den beteiligten Künst­le­r*in­nen ein Honorar. Als ein Statement versteht das Serapinas, ein Bekenntnis zu den Kunstschaffenden und deren Arbeit. Tatsächlich kann man das gar nicht genug hervorheben – selbst Venedig tut das nämlich nicht.

Auch Vilnius war einmal Kulturhauptstadt Europas. 2009, ausgerechnet. Mitten in der Wirtschaftskrise wurden die Budgets gekürzt, die litauische Fluglinie Flylal ging pleite, es gab kaum mehr Direktflüge nach Vilnius, internationale Gäste blieben aus, ebenso der erhoffte kulturelle oder touristische Boom.

In anderer Hinsicht kompliziert sind auch die aktuellen Zeiten, nicht nur wegen Corona: Da ist die Krise um und in Belarus, dessen Grenze nur 30 Kilometer von Vilnius entfernt liegt, und dann noch der Handelskonflikt mit China. Wie sich all das 2022 weiterentwickeln wird, steht noch in den Sternen.

Langfristig vom Titel Kulturhauptstadt profitieren

In der Vergangenheit konnten Städte oft dann langfristig vom Titel der Kulturhauptstadt profitieren, wenn sie nicht nur ins Programm, sondern auch in die Infrastruktur investierten. Dass Kaunas das eher nicht tut, könnte sich als Fehler erweisen. Könnte. Reine Mutmaßung ist das am Ende.

Fragt man die Direktorin Vitkienė, was nach 2022 bleiben soll, so spricht sie von den vielen Communitys, die sich miteinander vernetzt hätten und das auch bleiben würden. Was die vielen neu gegründeten Festivals und kulturellen Projekte betrifft, seien die Kommunen gefragt, Verantwortung zu übernehmen, weiter zu finanzieren. „Kompetenzen sind es vor allem, die bleiben werden“, sagt sie noch.

Augustas Serapinas wiederum hofft, Kaunas 2022 könnte es schaffen die Kultur des Landes zu dezentralisieren. Und, dass Marina Abramović und Yoko Ono Menschen zur Kultur führen könnten, die sich dafür bislang noch nicht interessierten. Behält er recht, wäre deren Besuch doch für etwas gut.

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