Kiewer Stimmen zum Ukraine-Konflikt: „Ich weiß, was Krieg ist“

Die Menschen in der Ukraine scheinen relativ gelassen mit der Kriegsgefahr umzugehen. Über ihre Angst vor dem Krieg schweigen die meisten.

Ein großes weißes Gebäude mit geschlossenene Rolläden, ein Zaun und zwei Menschen, die vorbeilaufen

Der Schnee schmilzt in Kiew, auch vor der russischen Botschaft Foto: Andrew Kravchenko/AP/dpa

KIEW taz | Ein Hauch von Frühling in Kiew. Die Sonne scheint warm in der ukrainischen Hauptstadt, der Schnee taut und am Kinderspielplatz in der Swetlizkijstraße im Stadtteil Podil tollen sich die Kinder. „Bei so einem Wetter bin ich natürlich den ganzen Tag mit Daniel draußen“, sagt Julia Bloschenko, 34 Jahre alt, und lässt dabei den schlafenden Daniel im Kinderwagen nicht aus den Augen. Der ist gerade acht Monate alt geworden und es scheint ihm zu gefallen, dass er von seiner Mutter und deren Tante Ira, die in Donezk wohnt, aber für ein paar Tage nach Kiew gekommen ist, hin- und hergeschoben wird.

Am Eingang des zehnstöckigen Hauses, in dem Julia Bloschenko mit ihrer Familie wohnt, ist in dünnen Buchstaben das Wort „Schutzraum“ hingekritzelt. „Hier soll irgendwo ein Schutzraum sein. Aber ich weiß gar nicht, wo der sich genau befindet und wie es da aussieht“, sagt sie. Ihre Wohnung, die sie mit ihrem Mann Anton und ihrem Sohn bewohnt, ist gemütlich, aber sehr klein, nur ein Schlafzimmer und die Küche. Julia Bloschenko ist bei der ukrainischen Vertretung einer deutschen Kosmetikfirma beschäftigt.

„Ich weiß, was Krieg ist, und ich weiß, was Flucht ist“, sagt sie. Sie beginnt zu erzählen und kommt dann immer wieder ins Stocken. Gesprächen über Krieg und Kriegsangst versucht sie normalerweise aus dem Weg zu gehen, was nicht schwer ist, die meisten ihrer Bekannten meiden ebenfalls derartige Gespräche, wie sie sagt. „Ich habe in Donezk gelebt, in der Nähe vom Flughafen, einem der am meisten umkämpften Gebiete der Stadt. Auch meine Straße ist damals beschossen worden. Und zwar auch von unserer Seite.“ Sie meint damit die Kiewer Truppen und will das nicht weiter ausführen, weil sie nichts sagen will, was die eine oder andere Seite politisch ausschlachten könnte.

Im Jahr 2014 hatten Julia und Anton in Donezk heiraten wollen. Alles war geplant, sie hatten sich sogar schon ein Haus gekauft. Doch dann wurde Krieg geführt im Donbass und sie sind zusammen mit ihren Eltern geflohen. Sie haben viele Verwandte und ein kleines Geschäft für Baumaterialien und Haushaltswaren in der Ostukraine zurückgelassen.

Mehrfach seien sie 2014 und 2015 wieder nach Donezk zurückgekehrt, erzählt Julia Bloschenko. In der Hoffnung, dass es nun wieder besser werde. Doch Ende 2015 entschieden sich die beiden endgültig, nach Kiew zu ziehen. Anton eröffnete dort eine Autowerkstatt, sie selbst fing bei der deutschen Kosmetikfirma an.

Die Frage nach der Perspektive

Das erste Jahr in Kiew war besonders traumatisierend. „Jedes Geräusch, jedes Kratzen hat mich an den Krieg erinnert“, erzählt sie. „Ich habe in dieser Zeit gestottert.“ Julia Bloschenko glaubt, dass sie es wegen dieser Erfahrungen jetzt einfacher hat als viele Kiewer MitbürgerInnen. „Wer 2014 in Donezk war, kommt mit der Lage heute leichter zurecht.“ Immer wieder werde sie von Bekannten angerufen, die wissen wollten, wie man sich am besten einen Notfallkoffer zusammenstellt.

Die Gespräche beschränken sich meist auf organisatorische Fragen, vielleicht entspinnt sich auch eine Diskussion über Geopolitik. „Aber über die eigene Kriegsangst spricht man nicht“. Auch sie versuche natürlich, das Thema zu verdrängen, räumt Julia ein. Sie sieht sich weder Fernsehnachrichten, noch informiert sie sich im Internet. Was sie von ihrem Mann, ihrer Mutter und ihrer Schwiegermutter höre, decke ihren Informationsbedarf. „Jetzt aktuell glaube ich nicht an einen Krieg“ sagt sie mit fester Stimme, schiebt dann aber nach: „Damals habe ich auch nicht an einen bevorstehenden Krieg geglaubt.“

Aber damals ist nicht heute und sie fragt sich: „Welche Perspektiven habe ich jetzt?“ In Donezk habe sie immer gewusst, dass sie jederzeit nach Kiew oder eine andere ukrainische Stadt fliehen könne. Aber jetzt? „Ins Ausland gehe ich jedenfalls nicht.“ Julia glaubt fest an eine Zukunft in Kiew. Mit ihrem Mann sucht sie eine größere Wohnung. Schlaflose Nächte wegen der Kriegsgefahr habe sie nicht, sagt sie. Und wenn sie mal doch nicht schlafen kann, dann liegt das an ihrem weinenden Sohn. Der bekommt gerade seine ersten Zähne. Dann geht Julia wieder auf die Straße und löst ihre Tante Ira am Kinderwagen ab. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages möchte sie gemeinsam mit Daniel erleben.

Insgesamt scheint die Mehrheit der Bevölkerung relativ gelassen mit der Kriegsgefahr umzugehen. Aber manche haben durchaus Panik. So wie eine Frau, die sich nur als Olja vorstellt, 55 Jahre alt, tätig im medizinischen Bereich. Sie könne kaum noch schlafen, sagt sie am Telefon. „15 Atomkraftwerke haben wir, 15 Atomkraftwerke. Und wenn es Krieg gibt, brennen die wie Streichhölzer.“ Es gebe doch einen Grund, dass alle jetzt ihre Botschaften schließen. „Die Leute feiern und trinken. Sie haben überhaupt noch nicht begriffen, was da auf uns zukommt“, sagt die Frau. „Es ist wie ein Gelage vor der Pest. Uns steht eine große Vernichtung bevor.“

An das Leid, das sie in der Ukraine schon erfahren haben, erinnert ein Mahnmal im Zen­trum von Kiew. Bei der Michaelskathedrale, unweit des Maidans, hängen an einer Mauer viele Porträtfotos von Menschen, die im Krieg im Donbass gefallen sind. Fast immer steht jemand davor, nachdenklich, schweigend, betend, mit gezogenem Hut. Es ist, als ob sie Zwiesprache hielten mit einem der Toten. Mit anderen mag allerdings niemand reden. Keiner erzählt, warum er oder sie hier steht.

Natascha Garadnitschewa will eigentlich auch nicht darüber reden. Schon gar nicht am Wochenende, endlich hat sie frei. Die ganze Woche hat die Vierzigjährige in einem großen Supermarkt geschuftet, erst als Kassiererin, dann als Verantwortliche für den Wareneingang. Nun ist sie endlich zu Hause, bei ihrem Mann Dmitrij, der in der Gasindustrie tätig ist.

„Ich bin gegen den Krieg“, sagt sie knapp. „Ich will mein Leben meistern, ich arbeite für meine Kinder und ich will nicht ständig nachdenken müssen über ein Problem, das wir im Augenblick gar nicht haben.“ Nicht nur sie sei in ihrer Familie dieser Meinung. „Auch Artjom und Maxim denken nicht an Krieg“, sagt sie. Die 15 Jahre alten Zwillingen chatten viel im Internet, erzählt Natascha, auch mit Russinnen. „Die können gar nicht glauben, dass es Krieg geben könnte.“

Eigentlich eine Familie

Ihre Söhne, die nicht bei ihr wohnen, sieht sie nur einige Male im Monat, immer dann, wenn sie keinen Schichtdienst hat, fährt sie in das Dorf Popivka, zweihundert Kilometer nordöstlich von Kiew. Leider habe sie nur in der Hauptstadt Arbeit finden können, sagt Natascha. „Aber am Ende dieses Schuljahres werden meine Zwillinge auch nach Kiew kommen und dann hier auf die Schule gehen.“ Sie lacht.

Doch dann hält sie inne. „Wenn es doch Krieg geben sollte, weiß ich nicht, was ich dann mache.“ Sie überlegt. „Wahrscheinlich gehe ich zu meiner Mutter und meinen Söhnen nach Popivka. Oder zur Familie meines Mannes nach Poltawa. Oder vielleicht bleibe ich auch einfach hier in Kiew.“ Doch am ehesten wohl aufs Dorf, wo die Zwillinge und ihre Mutter leben.

Obwohl Natascha Garadnitschewa eben noch behauptet hatte, dass Krieg derzeit gar kein Problem sei, macht sie sich sehr genau Gedanken, wie er denn beginnen könnte, der Einmarsch der russischen Truppen. „Wenn die Russen einmarschieren, werden sie entweder von Belarus im Norden kommen oder über Charkiw im Osten. In beiden Fällen haben die Leute in Popivka wohl Glück“, ist sich Natascha Garadnitschewa sicher.

Natürlich macht sie sich um ihre Söhne große Sorgen und je länger sie darüber redet, um so mehr redet sie sich dabei in Rage. „Ich will auf keinen Fall, dass meine Zwillinge in einem Krieg kämpfen. Meine Söhne habe ich nicht für den Krieg geboren. Ich brauche auch keine Orden, die sie nach dem Tod überreicht bekommen. Das einzige, was ich brauche, ist das Lachen von glücklichen Enkeln.“

„Man muss sich das mal vorstellen. Früher waren wir eine große Familie!“ Unglaublich klingt das, was sie über Russen und Ukrainer zu sagen hat. „Wir haben gegen den Hitler-Faschismus gekämpft. Und auch jetzt noch sind die Russen unsere Brüder. Ist schon schlimm, wenn dein Bruder gleichzeitig dein Feind ist.“ Natürlich haben viele Menschen in Russland große Sympathien mit der Ukraine. Die Menschen sind doch untereinander verwandt. „Mein inzwischen toter Vater ist ja aus Russland. Und ab und zu telefoniere ich mit den Verwandten und die haben große Angst um uns.“

Das Telefon läutet. Es gibt Ärger. Eine Kollegin meint, mit den Waren heute sei etwas nicht in Ordnung gewesen. Natascha Garadnitschewa nimmt sich das zu Herzen, in diesem Moment mehr als den drohenden Krieg.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.