Nachklang zur Berlinale: Trauriges Steinobst

Die Berlinale gönnt sich am Wochenende noch Publikumstage. Währenddessen bleibt die Frage, ob der beste Film gewonnen hat.

Filmszene mit Kindern in einem Auto.

Szene aus dem Film „Alcarràs“, Gewinner des Goldenen Bären der Berlinale 2022 Foto: Lluis Tudela/berlinale/dpa

Erst ist der alte Citroën 2CV weg. Eben noch hatten die Kinder vom Bauernhof darin gespielt, wenig später kommt ein Bagger und schafft ihn fort. Der Bagger soll aber nicht allein tote Gegenstände wie Autos beseitigen. Er ist gekommen, um die Obstbäume der Familie von Quimet (baum­artig standhaft: Jordi Pujol Dolcet) auszureißen. Das Grundstück, auf dem sie stehen, gehört anderen, ein Generationswechsel bei den Eigentümern hat neue Begehrlichkeiten geweckt. Jetzt sollen Solarpaneele dorthin, wo seit Jahrzehnten Pfirsiche, Nektarinen, Weintrauben und Feigen wachsen. Bis zum Herbst, wenn die Ernte eingebracht ist, bleibt Zeit, dann muss die Familie weichen.

Der Film „Alcarràs“, mit dem die Regisseurin Carla Simón auf der 72. Berlinale den Goldenen Bären gewonnen hat, ist in seiner Geschichte ganz gegenwärtig. Menschen mit Grund und Geld ändern die Regeln für die Menschen um sie herum, in diesem Fall die kleinen Bauern in Katalonien, die zum Teil biologischen Landbau betreiben. Simón konzentriert sich dabei auf die einigermaßen unübersichtliche Verwandtschaft Quimets, zu dessen Frau und drei Kindern noch Onkel und Tanten und eine Reihe weiterer Kinder kommen.

Die Figuren sind bei ihr ständig in Bewegung, beim Pflücken des Steinobsts sind selbst die Jüngsten im Einsatz, die Kamera bleibt dicht bei den Gesichtern, bei den Körpern, bei den Früchten, die vom Baum in Eimer und dann in Kisten wandern, die mit dem Traktor anschließend zum Großmarkt gefahren werden. Kaum kommt mal jemand zum Verschnaufen; wenn nicht gearbeitet wird, streitet man beim Essen über die Frage, ob man bleiben und Solarpaneele warten soll.

Nur nachts, wenn die Männer zufällig nicht mit dem Jeep unterwegs sind, um Karnickel zu schießen, kehren kurze Momente der Ruhe ein, auch für den Film. Dessen Mechanik läuft ein bisschen ab wie ein Uhrwerk; ist der Startschuss für die Familie einmal gefallen, ist für diese klar, was zu tun ist und wie lange.

Das Ensemble, das Simón dirigiert, agiert so geschmeidig wie eine Tanzgruppe. Bloß dass es völlig ungekünstelt wirkt, wie eine echte Familie eben. Man schaut ihnen gern zu. Die einzelnen Figuren sind nicht unbedingt stark gezeichnet, sie spielen ihre Rollen jedoch deutlich genug, dass man zumindest den Überblick behält. Simón hat ein klares Vorhaben für ihren Film, ein Einzelschicksal stellvertretend für eine größere Entwicklung rund um die Welt zu schildern. Der Film folgt dem Plan stringent und ohne erzählerischen Zierrat.

Ein bisschen bleibt aber, auch nach der Verleihung der Preise, während die Berlinale sich bis Sonntag noch ihre ausgedehnten Publikumstage gönnt, die Frage, ob mit „Alcarràs“ der stärkste Film gewonnen hat. Das mag zum einen am Fehlen klarer Favoriten im Wettbewerb gelegen haben. Doch gab es durchaus Filme, die interessanter, vielschichtiger, raffinierter waren.

Das Trauma von Bataclan

„The Novelist’s Film“ des Koreaners Hong Sang-soo gelang mit nicht minder einfachen Mitteln eine komplexere und dichtere Erzählung. Und der spanische Filmemacher Isaki Lacuesta ging in „Un año, una noche“ mutig der Frage nach, wie jemand den Anschlag auf den Pariser Club Bataclan erlebt und das Trauma hinterher verarbeitet. Die Erinnerung des Paars im Zentrum seiner Geschichte inszeniert er als so fragil und rissig, dass es bei der Kritik zu unterschiedlichen Deutungen über das genaue Schicksal der Protagonisten kam. Was ein gutes Zeichen dafür sein könnte, dass der Film eine seinem Thema adäquat verwirrende Form gefunden hat.

Vielleicht hat die Entscheidung für „Alcarràs“ auch mit der prononcierten politischen Botschaft von Simóns Film zu tun. Zugleich war dies eine Entscheidung für die jüngste eingeladene Filmemacherin, wogegen erst recht nichts einzuwenden ist.

Dies wohlgemerkt mit knappem Vorsprung vor der indonesischen Regisseurin Kamila Andini, die ihren Beitrag „Nana“ im Wettbewerb präsentierte, einen Historienfilm über eine Überlebende des Indonesischen Unabhängigkeitskriegs, die Mitte der sechziger Jahre, an der Schwelle zur Diktatur Suhartos, scheinbar unbeschwert in Jakarta lebt. Ein Film, dessen Bilder etwas viel erwartbare Patina haben, dafür mit eigenem Rhythmus und dem genau richtigen Maß an Gamelanmusik.

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