Spielfilm „Belfast“ von Kenneth Branagh: Mit Kinderaugen

In seinem autobiografischen Spielfilm „Belfast“ erzählt Kenneth Branagh von der Kindheit in seiner Geburtsstadt. Er ist für mehrere Oscars nominiert.

Buddy und seine Familie blicken aus Untersicht im Freien in die Kamera.

Protestanten unerwünscht: Buddy und seine Familie in „Belfast“ Foto: Focus Features, L.L.C.

Corona ist schuld, dass dieser Film gedreht wurde. Weil es während des Lockdowns so still war und das Kino praktisch brachlag, kam bei Kenneth Branagh Nostalgie auf: Er erinnerte sich an die Geräusche seiner Kindheit in Belfast. „Ich hatte schon immer über diese Zeit schreiben wollen“, sagte er in einem Interview im NDR.

Nun hat er es getan, und herausgekommen ist „Belfast“, eine Art filmische Autobiografie. Es ist, trotz des beginnenden Nordirlandkonflikts, ein unpolitischer Film, eine Familiengeschichte, durch die Augen des neunjährigen Buddy. Branagh ist Buddy, und er hat den großartigen Jude Hill unter 300 Kinderdarstellern für die Rolle ausgewählt.

In der Anfangsszene – es ist der 15. August 1969 – spielt Buddy mit einem Holzschwert und einem Mülltonnendeckel als Schild auf der schmalen Straße mit den kleinen Reihenhäusern. Im nächsten Moment fliegen Molotowcocktails, Scheiben bersten und jemand schreit: „Katholiken raus!“ Buddys Mutter, gespielt von Caitríona Balfe, muss den Mülltonnendeckel nun als echtes Schutzschild benutzen, um sich und ihren Sohn in Sicherheit zu bringen.

Auf die Hintergründe der Gewalt geht Branagh kaum ein. Nachdem die Demonstrationen der Bürgerrechtsbewegung regelmäßig von protestantischen Banden angegriffen worden waren, was meistens zu Straßenschlachten führte, entsandte die britische Armee am 14. August ihre Soldaten nach Nordirland. Sie wurden vom ­katholisch-republikanischen Bevölkerungsteil zunächst wohlwollend als Beschützer begrüßt.

„Belfast“: Regie: Kenneth Branagh. Mit Caitríona Balfe, Judi Dench u. a. Vereinigtes Königreich 2021, 97 Min.

Die Flitterwochen währten nur kurz, schon bald zeigte die Armee, dass sie aufseiten der protestantischen Mehrheit stand, die ihre Privilegien mit Gewalt verteidigte. Die Bürgerrechtsbewegung verlangte eine gerechtere Wohnungs- und Jobvergabe sowie gleiches Stimmrecht für Katholiken. Buddys Vater, gespielt von Jamie Dornan, der als Schreiner jeweils zwei Wochen im Monat in England arbeitet, erklärt dem Jungen, dass es nicht „unsere Seite und deren Seite in unserer Straße“ gebe.

Katholiken und Protestanten friedlich Tür an Tür

Damals waren die Arbeiterviertel Belfasts noch gemischt, erst mit der Eskalation der Gewalt und dem wachsenden Einfluss paramilitärischer Organisationen auf beiden Seiten wurden die Viertel gewaltsam segregiert. In der Universitätsgegend und um die Malone Road, wo die Mittelschicht lebte, wohnten Katholiken und Protestanten hingegen auch während der heißen Phasen des Konflikts friedlich Tür an Tür.

Buddys Familie ist protestantisch, ebenso wie Branaghs Familie. Als in der Nachbarschaft der Laden einer Katholikin während der Ausschreitungen geplündert wird, schnappt sich Buddy eine Packung Waschmittel und trägt sie nach Hause, aber seine Mutter zwingt ihn, das Diebesgut zurückzubringen. Sein Vater, der Ärger mit der Steuer hat, gerät mit den Anführern der protestantischen Banden aneinander. „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, machen sie ihm klar. In Buddys Eltern reift der Entschluss, aus Belfast wegzugehen.

Jude Hill spielt seine Rolle bei seinem Debüt exzellent, als er zum Beispiel eine Mitschülerin, für die er schwärmt, beeindrucken will, oder als er mit großen Augen auf die Kinoleinwand starrt, wo die Lieblingsfilme aus Branaghs Kindheit laufen. Wenn das Steinzeitdrama „Eine Million Jahre vor unserer Zeit“ mit Raquel Welch im Fellhöschen oder der Abenteuerfilm „Tschitti Tschitti Bäng Bäng“ zu sehen sind, wechselt der ansonsten in Schwarz-Weiß gedrehte Film kurz zu Technicolor.

Und in einer weiteren Szene blitzt kurz Farbe auf: Beim Thea­terbesuch, wo das Stück „A Christmas Carol“ gegeben wird, sieht man eine goldene Reflexion in der schwarz-weißen Brille von Judi Dench, die Buddys Oma spielt. Ist das Branaghs ironisches Eingeständnis, dass er seine Kindheit durch eine rosa Brille sieht?

Musik von Van Morrison

Buddys wichtigste Bezugspersonen sind seine Großeltern. Der Opa, gespielt von ­Ciarán Hinds, ist wegen seiner Lungenkrankheit öfter im Krankenhaus, Oma Dench versucht, auch den schwierigsten Situationen einen positiven Aspekt abzugewinnen. Die Musik zum Film stammt von Van Morrison, wie Branagh ein Protestant aus Belfast. Er hat acht alte und einen neuen Song beigesteuert.

Als am 6. Februar 1971 der erste britische Soldat von der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) erschossen wurde, waren Judes und Branaghs Familien schon nach England ausgewandert. „Die Iren sind dazu geboren, wegzugehen“, sagt Tante Violet im Film. „Sonst hätte der Rest der Welt ja keine irischen Pubs.“

Seinen Belfast-Akzent hat sich Branagh längst abgewöhnt, aber er beherrscht ihn noch, wie er Ende Januar bei einem Interview in der „Late Late Show“, Irlands Dauerbrenner-Talkshow, bewiesen hat. Branagh sagte, dass er nach dem Umzug seiner Familie nach England von den Mitschülern wegen seines Akzents gehänselt wurde und ihn deshalb ziemlich schnell aufgab.

Buddy alias Jude Hill, der aus einem Dorf in der Grafschaft Down südlich von Belfast stammt, spricht mit breitem Belfaster Akzent, wie es auch Branagh als Kind getan hat. Die Dublinerin Balfe und Dench, deren Mutter aus Dublin stammte, bekommen den Dialekt nahezu perfekt hin, obwohl das Dubliner Englisch völlig anders klingt. Für den Belfaster Hinds und für Dornan, der aus dem Belfaster Vorort Holywood stammt, war der Dialekt ein Heimspiel.

Der Hollywood Reporter schrieb, dass der „starke Akzent für amerikanische Ohren“ leider nicht einfach zu verstehen sei: „Das ist ein Film, der mit Sicherheit von Untertiteln profitiert hätte.“ Branagh hat diese Kritik offenbar vorausgeahnt. Als Buddy befürchtet, dass seine künftigen englischen Klassenkameraden sich über seinen Akzent lustig machen werden, sagt sein Opa: „Wenn sie dich nicht verstehen können, hören sie nicht richtig zu, und das ist deren Problem.“

Reif für den Oscar?

Branagh ist ein Multitalent. Als Schauspieler war er der Zauberschullehrer Gilderoy Lockhart in „Harry Potter und die Kammer des Schreckens“, er war der Nazi Reinhard Heydrich in „Conspiracy“, und er war Kommissar Wallander in der Krimiserie von Henning Mankell.

Als Regisseur hat er sich mit Theateradaptionen von Shakespeare-Stücken und mit Neuverfilmungen von Agatha-Christie-Klassikern einen Namen gemacht. Und in Hollywood drehte er den erfolgreichen Actionfilm „Thor“, den Superhelden aus dem Marvel-Universum. Darauf spielt eine Szene in „Belfast“ an, in der Buddy den entsprechenden Thor-Comic liest.

Ist „Belfast“ reif für den Oscar? Wer gewinne, sei egal, hat Branagh dem Spiegel erzählt: „Das Kino ist nach zwei Jahren Pandemie in seiner Existenz bedroht wie noch nie seit seiner Erfindung. Jede Siegtrophäe für einen Film ist ein kleiner Sieg für alle Filme.“

Die Oscar-Statue ist 1928 von einem Iren entworfen worden: Cedric Gibbons war Art Director bei Metro Goldwyn Mayer und wurde selbst 37 Mal für einen Oscar nominiert. Er gewann ihn elf Mal. Nur Walt Disney siegte öfter, nämlich 22 Mal.

In einem Punkt ist Disney von Branagh nun überflügelt worden. Bisher war Disney in sechs und Branagh in fünf verschiedenen Kategorien nominiert worden: als bester Hauptdarsteller, Nebendarsteller, Drehbuchautor, Regisseur sowie für den besten Kurzfilm. Mit seinen „Belfast“-Nominierungen für das beste Drehbuch und den besten Film hält er nun den Rekord für die meisten Oscar-Nominierungen in verschiedenen Kategorien. Vielleicht gewinnt er ja nun zum ersten Mal.

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