Sterbliche Überreste aus Kolonialzeit: „Es gibt ein Recht auf Totenruhe“

Berliner Institutionen, die menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten haben, wissen zu wenig über ihre Bestände, so Ethnologin Isabelle Reimann.

„The soul within“ (Ausschnitt) aus der Serie „collect“ ist der Dokumentation vorangestellt (S. 19) Foto: Michael Jalaru Torres

taz: Frau Reimann, Sie haben für die Initiative Decolonize Berlin ermittelt, wie viele menschliche Überreste – auf Englisch human remains – aus Kolonialzeiten in Berliner Institutionen aufbewahrt werden, etwa bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Wie sieht das Ergebnis aus?

Isabelle Reimann: Zunächst: Ich habe keine eigene Erfassung oder historische Rekonstruktion der Sammlungen gemacht. Mein Gutachten beruht auf Angaben der Einrichtungen selber. Die Ergebnisse sind daher nur die Minimalangaben – auch weil einzelne Institutionen selbst definieren wollten, was sie als kolonialen Kontext betrachten. Danach gibt es mindestens 5.958 menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten in zwölf Institutionen. Bei 13.500 human remains kann zudem ein kolonialer Kontext nicht ausgeschlossen werden, dazu gehören auch die „rassenanthropologischen“ Sammlungen. Dazu kommen noch 16.000 Knochenfragmente aus Grabungen auf dem Gelände des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik.

Was hat Sie am meisten überrascht?

Vor allem, wie wenig Aufarbeitung es bislang in den Institutionen gibt. Seit den 1970er und 1980er Jahren gibt es die Repatriierungsbewegung; 2013 wurde im Leitfaden des Deutschen Museumsbundes die Ermittlung der Herkunft von menschlichen Überresten zur Priorität erklärt, und 2019 wurde das im Eckpunktepapier der Bund-Länder-AG als politischer Wille bestätigt. Trotzdem haben meine Anfragen in den Institutionen jetzt Diskussionen und zum Teil überhaupt erste Bestandsaufnahmen ausgelöst.

Hat es Sie schockiert, dass die Berliner so wenig wissen über ihre Bestände?

Als Provenienzforscherin weiß ich natürlich um den schwierigen und langwierigen Prozess, die Identität und Herkunft der Menschen zu ermitteln. Schockiert hat mich eher, wie wenig die Institutionen in Berlin bei der Provinienzforschung bislang aktiv mit den Herkunftsgesellschaften zusammenarbeiten und wie wenig diese als Ex­per­t*in­nen einbezogen wurden und werden. Die hiesigen Institutionen können die Fragen der Herkunftsgesellschaften nach dem Verbleib der Überreste ihrer Ahnen gar nicht beantworten, ohne erst eine Forschung anzustoßen. Aber bei dieser Forschung ist das Wissen der Herkunftsgesellschaften wichtig – um die zweite Seite der Geschichte einzubeziehen, die nicht in den Archiven hierzulande zu finden ist.

Warum ist die Einbeziehung sonst noch wichtig?

Isabelle Reimann,

37, ist Ethnologin an der Humboldt-Universität. Ihr Forschungsschwerpunkt: koloniale Provenienzforschung und „Rehumanisierung“ im Umgang mit menschlichen Überresten aus der Kolonialzeit.

Für Angehörige aus den Herkunftsgesellschaften sind diese menschlichen Überreste zum Teil spirituell lebendige Entitäten, die in Beziehung mit ihnen stehen – und sie haben die Verantwortung, ihren Vorfahren eine gute Bestattung und ein würdiges Andenken zu gewähren. Bei uns hier steht das bislang nicht im Fokus, sondern eher, wie man methodisch die Bestände ermitteln kann. Aber das gehört zusammen.

Fordern Sie darum die Einrichtung eines advisory boards, das Ver­tre­te­r*in­nen der Herkunftsländer einbezieht?

Genau. Schon der Prozess einer Bestandsaufnahme sollte mit Dialog einhergehen.

Müsste man dafür nicht schon wissen, aus welcher Region etwas kommt, damit man die richtigen Leute beteiligt?

Es gibt an den meisten human remains Bezeichnungen, etwa ethnische Zuschreibungen – meist sind das aber Fremdbezeichnungen aus dem 19. Jahrhundert. Die Institutionen der ehemaligen Kolonialmächte sollten nicht die Entscheidungsmacht haben, mit wem zusammengearbeitet wird. Da braucht es die lokale Expertise, die mit möglichst transparenter Informationslage durch die Institutionen unterstützt werden.

Soll also jede Sammlung in Berlin, die human remains hat, Menschen aus den Herkunftsgesellschaften einladen, um gemeinsam zu forschen und Rückgaben vorzubereiten?

Sofern Menschen aus den Herkunftsgesellschaften Interesse an einer Zusammenarbeit haben, wäre dies wünschenswert. Damit nicht jede Einrichtung einen eigenen Beirat gründen muss, können überinstitutionelle Forschung und ein advisory board ein erster Schritt zum vereinfachten, nachhaltigen Vorgehen sein, das Synergien erzeugt und Ressourcen bündelt. In so einem Beirat sollten Re­pa­tri­ie­rungs­ex­per­t*in­nen aus den Herkunftsländern wichtige Dinge, die ihre Vorfahren betreffen, autorisieren können. Etwa: Was wird als menschliche Überreste definiert? Wie soll damit umgegangen werden? Was passiert mit den Forschungsdaten? Wer hat Zugang dazu? Was ist für die Öffentlichkeit bestimmt? Da wird es sehr unterschiedliche Antworten geben: Denn so unterschiedlich wie Menschen in verschiedenen Kulturen mit ihren Ahnen umgehen, so unterschiedlich sind auch diese Wege.

Die Untersuchung Für den Verein Decolonize Berlin hat Isabelle Reimann das wissenschaftliche Gutachten „We want them back! Zum Bestand menschlicher Überreste/human remains aus kolonialen Kontexten in Berlin“ verfasst. Hintergrund ist, dass bei Decolonize Berlin auch die vom Senat finanzierte „Koordinierungsstelle für ein gesamtstädtisches Aufarbeitungskonzept zu Berlins kolonialer Vergangenheit“ angesiedelt ist. Sie soll die Kolonialgeschichte in der Hauptstadt erforschen und ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen.

Das Ergebnis Laut Isabelle Reimanns Gutachten gibt es in zwölf Berliner Institutionen Bestände mit human remains. Die größten sind im Museum für Vor- und Frühgeschichte und dem Museum für Ethnologie vorhanden sowie bei der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Weitere menschliche Überreste gibt es unter anderem in der Charité, dem Museum für Naturkunde, den Zoologischen Lehrsammlungen von Humboldt- und Freier Universität, der Kunsthochschule Weißensee und dem Lautarchiv. (taz)

Haben Sie ein Beispiel?

In Australien verletzt es das moralisch-ethische Empfinden der Angehörigen, Fotografien der Überreste zu zeigen. In Namibia dagegen waren die Bilder der Schädel, die vor ein paar Jahren von Berlin zurückgegeben wurden, für die Nachfahren wichtig, um die Geschichte dieser Personen und den Genozid sichtbar zu machen. Die Fotografien der Schädel zu zeigen, galt dort als Anerkennung der Opfer des Genozids. Solchen Unterschieden müssen wir uns stellen. Denn wie gesagt: Es handelt sich ja um menschliche Überreste aus der ganzen Welt, die ohne Zustimmung der Angehörigen aus kolonialen und zum Teil sehr gewalttätigen Kontexten hierherkamen.

Wie groß ist die Bereitschaft der Berliner Institutionen, diese Aufgabe anzugehen?

In vielen Institutionen gibt es eine große Bereitschaft dazu. Aber es wurde auch geäußert, dass es eine überinstitutionelle Auseinandersetzung und in vielen Einrichtungen auch Unterstützung von außen geben muss. Viele Institutionen haben an ihren Beständen kleinere oder größere Forschungsprojekte angefangen. Aber es sollte eben auch ein überinstitutionelles Projekt initiiert und staatlich unterstützt werden.

Eine Institution hat sich geweigert, mit Ihnen zu sprechen: die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Ur- und Frühgeschichte (BGAEU). Dort ist man der Auffassung, man brauche die menschlichen Überreste für wissenschaftliche Forschung. Wie sehen Sie das?

Menschliche Überreste haben einen wissenschaftlichen Wert, etwa weil mit neuen technischen Möglichkeiten in der Genetik Informationen gewonnen werden können. Allerdings denke ich, dass man die koloniale Aneignung reproduziert und legitimiert, wenn die Aneignung der Schädel ohne Zustimmung erfolgt ist, zum Teil als gewaltsamer Akt, sogar als Raub in einem kolonialen Kriegskontext – und man dennoch einfach ohne Zustimmung weiterforscht an den Überresten. Man setzt dann das alte Ungleichgewicht der Macht fort. Zudem ist es nicht so, dass indigenes Wissen und westliche Wissenschaft sich ausschließen. Es gibt international gute Beispiele für gemeinsame Forschungsprojekte.

Auch in Deutschland?

Hier müsste zunächst der erste Schritt – die Anerkennung der Kolonialgeschichte und das Prinzip der informierten Zustimmung der indigenen Rechte – fest etabliert werden. Wenn wir indigene Gruppen als gleichberechtigte Gesprächspartner mit ihren eigenen politischen und philosophischen Anschauungen ansehen, erscheint die westliche Wissenschaft nicht mehr als universeller Wert an sich, sondern als ein Interesse unter anderen.

Das sagt auch der CERD-Bericht vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), der zusammen mit Ihrem Gutachten veröffentlicht wurde.

Der Bericht hält fest, dass Deutschland beim Thema human remains seinen rechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommt, etwa dem UN-Abkommen zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung. Die Repatriierung von ancestral human remains ist ein Menschen- und Grundrecht. Es gibt ein Recht auf Totenruhe sowie ein Recht der Angehörigen, ihre Verstorbenen in angemessener Weise zu betrauern und zu bestatten.

In Ihrem Gutachten heißt es, dass es bislang in Deutschland keine Rechtsgrundlage für Rückgaben von human remains gibt. Was fehlt?

Es gibt die staatlich garantierte Menschenwürde, die dem Grundgesetz zugrunde liegt. Dies könnte man auf den Kontext menschlicher Überreste anwenden. Praktisch ist es aber so, dass Angehörige Glück haben müssen, dass man mit ihnen kooperiert. In einem Kommentar zu meinem Gutachten fordern darum Hiturangi und Huki aus Rapa Nui, die zu Chile gehörige Osterinsel, der Bundestag müsse eine Regelung schaffen, die sowohl Nachkommen als auch hiesigen Verantwortlichen hilft. So könnte auch die überinstitutionelle Provenienzforschung unter Einbezug eines advisory boards verankert werden.

Wir reden bisher über human remains aus kolonialen Zeiten. Was ist mit älteren Knochen?

Das ist eine der großen Auslassungen in meinem Gutachten: Ich habe es von der Kapazität nicht geschafft, dazu eine fundierte Position zu erarbeiten in einer Diskussion, die in Deutschland gerade erst begonnen hat. Auch wurde mir etwa von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gesagt, dass ich keine Ansprechperson im Ägyptischen Museum oder Vorderasiatischen Museum bekomme, weil prähistorische, archäologische oder paläontologische Bestände für mein Gutachten nicht relevant wären.

Wie finden Sie das?

Das ist problematisch. Man müsste genauer gucken, wo der koloniale Kontext im Einzelfall endet. Zudem haben Repatriierungspraktiker*innen, wie Amber Aranui der Maori aus Neuseeland, geäußert, dass es für sie egal ist, ob die Menschen vor sehr langer Zeit gestorben sind oder vor drei Generationen – und dass auch solche alten Überreste als ihre Ahnen nicht im Besitz von ehemals kolonialen Institutionen liegen sollen.

Zum Schluss: Warum ist das Thema überhaupt wichtig – nicht nur für die ehemals Kolonisierten, sondern auch für uns?

Für uns als sogenannte Aneignungsgesellschaft ist die Auseinandersetzung mit all diesen Sammlungsbeständen wichtig, um zu verstehen, was die koloniale Praxis und die kolonialen Denkweisen mit der Bevölkerung – mit uns, unseren Vorfahren – gemacht haben. Schließlich sind Rassismus und Eurozentrismus weiterhin sehr wirkmächtige Ideologien, sie stecken in unserem Denken, in unseren Körpern. Um das zu beenden, müssen wir die kolonialen Strukturen und Vorstellungen aufbrechen. Das ist für ehemals Kolonisierte wie Kolonisierende gleichermaßen wichtig.

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