Flucht, Verfolgung und Ruhm

Der Dokumentarfilm „Belina – Music For Peace“ von Marc Boettcher erinnert an die jüdische Folksängerin Lea-Nina Rodzynek, die als Belina im Deutschland der Nachkriegszeit ein Star wurde

Die Sängerin Belina, Still aus dem Film „Belina – Music For Peace“ Foto: Boettcher Film

Von Robert Mießner

„Sag mir, wo die Blumen sind“: Pete Seegers Antikriegssong „Where Have All the Flowers Gone“ in deutscher Übersetzung, Anfang der Sechziger hat Marlene Dietrich ihn populär gemacht, vor einigen Jahren haben die Einstürzenden Neubauten ihn interpretiert, kennen alle. Aber vielleicht dann doch nicht in der Version, die am Dienstagabend im gut gefüllten großen Saal des Kinos Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz zu hören und auf der Leinwand zu sehen war: gesungen von einer Frau, die in hochgeschlossenem Schwarz über ein menschenleeres Schlachtfeld geht und mit tiefer Stimme und leichtem Akzent singt: „Wann wird man je verstehen?“

Die Dokumentation, die da ihre durch die Pandemie lange verzögerte Premiere hatte, ist das Porträt „Belina – Music For Peace“, das der Filmemacher Marc Boettcher über die jüdische Folksängerin Lea-Nina Rodzynek, die sich als Künstlerin Belina nannte, gedreht hat. Die Friedensbotschaft in seinem Titel vertritt der Film vehement. Das Leben seiner Protagonistin, das er aufblättert, macht deutlich, warum. Belina kommt 1925 auf die Welt, in Sterdyń bei Treblinka, als das noch ein Dorf 75 Kilometer nordöstlich von Warschau ist. Das musikalische Kind wird gefördert. Von den Eltern, die es wie die drei Brüder verlieren wird, verschleppt und umgebracht nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939. Die jugendliche Lea-Nina wird als Zwangsarbeiterin nach Norddeutschland deportiert und durchlebt eine traumatische Flucht- und Verfolgungsgeschichte.

Nach dem Krieg geht Lea-Nina in Bergen-Belsen mit einem Auschwitz-Überlebenden eine kurze Ehe ein, die ihr ihren Sohn Michel Rodzynek schenkt. In Boettchers Film ist er einer der Protagonisten, der Journalist wird interviewt wie auch die Sängerinnen Sharon Brauner, Katharine Mehrling, Djatou Touré, Jocelyn B. Smith, Joana Emetz und Alexandra Marisa Wilcke oder der Klarinettist Giora Feidman. Sie fungieren als Stichwortgeber, kommentieren, wie aus der Kosmetikerin und Mitarbeiterin im Schönheitssalon von Elizabeth Arden allmählich die Sängerin Belina wird.

Am Anfang steht ein 1960 auf Single veröffentlichter Schlager. In einer Szene, die es so hoffentlich nicht mehr geben wird, steht eine Handvoll honoriger Herren im Aufnahmestudio und macht der Sängerin wieder und wieder klar, wie sie die Titelzeile zu singen habe: „Schenk mir Liebe, Monsieur“. Das braucht keinen Kommentar. Belina will weg vom Schlager, hin zu ernsten Chansons. Es gelingt ihr über einen Umweg, der Song „Die schwarze Witwe“ ist so noir wie der Klaus-Kinski-Film, dem er seinen Titel verdankt. Ein anderer Clip, den Boettcher für seinen Film gehoben hat, zeigt Belina, wie sie Friedrich Hollaenders „Wenn ich mir was wünschen dürfte“ singt. Schwarz-weiß natürlich, auf einer Hollywood-Schaukel rauchend. Überhaupt beleuchtet „Belina“ eine Zeit, in der die Zigarette noch Stilelement jedes Konzert- und Talkshow-Auftritts ist. Den Cognac und den Wein aus bauchigen Korbflaschen nicht zu vergessen, ausgeschenkt in einem Charlottenburger Hinterhof.

Den endgültigen Schritt in das ernste Fach vollzieht Belina in der Zusammenarbeit mit dem Gitarristen Siegfried Behrend. Vom Habitus und seiner markanten Brille her könnte er, der international bereits gefeiert wird, einer der Herren aus dem Aufnahmestudio sein, ist es dann aber doch nicht. Das Duo Belina & Behrend wird ab 1963 mehrere LPs mit anspruchsvollen Einspielungen internationaler Folklore veröffentlichen und Belina am Ende dieser Zusammenarbeit in über einem Dutzend Sprachen gesungen und mit Behrend eine mehrmonatige Welttournee als Kulturbotschafter des Goethe-Instituts und des Auswärtigen Amts eine wahre Welttournee absolviert haben.

Das zweite Album „Die schönsten Lieder dieser Welt“ weist die Länder und Regionen aus, von denen sich das Duo inspirieren lässt: Israel, Spanien, Japan, Andalusien, Frankreich, Osteuropa, Russland, Trinidad, Italien, Orient, Lothringen, Polen, Ungarn. Und, wenige Jahre nach dem Gastarbeiter-Anwerbeabkommen mit der Bundesrepublik, die Türkei. Das Album „Jiddish Songs – Es Brennt“ von 1965 ist programmatisch. Auch in der DDR erscheint 1967 auf Amiga unter dem Titel „Eine Stimme und eine Gitarre“ eine Platte von Belina & Behrend. Sie kommt im Film nicht vor.

Dafür verschweigt Boettchers Film die Schatten auf Belinas Weg nicht. Einiges deutet er an, so im Gespräch mit Siegfried Behrends Frau Claudia Brodzinski, an anderer Stelle wird er deutlich, wenn es um weniger glückliche Auftritte des Duos in Pakistan, Ägypten oder Polen geht. Am Ende singt Belina, 2006 in Hamburg gestorben, den Titelsong ihrer ersten eigenen, 1963 erschienenen LP: „Jeder träumt seine eigenen Träume“. Der Hintergrund ist in Dunkel getaucht, aus dem Autos heranfahren. In einer optimistischen Assoziation könnten ihre Scheinwerfer Glühwürmchen sein.