100. Geburtstag von Charles Mingus: Ekstatische Momente am Kontrabass

Vor 100 Jahren wurde der Jazzbassist Charles Mingus geboren. Seine Musik ist voll Lebensfreude, Zorn und körperverwandelnder Kraft.

Jazzbassist Charles Mingus auf einem Konzert

„Talk to me!“ Charles Mingus am Bass Foto: Tom Copi/Michael Ochs Archives/getty images

Stellt man sich eine Band als menschlichen Körper vor, ist der Bassist ihr Zwerchfell. Er reguliert ihre Atmung, die Rhythmizität und Energiegewinnung für das fortlaufende Spiel, sorgt für ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen den Organen, also von Rhythmus- und Melodieinstrumenten, und ist Motor für ihre Stimmbildung, also den Klang.

In einem Stück verlässt der US-Jazzbassist Charles Mingus all diese Funktionen des Zusammenhalts und transzendiert sein Instrument im Duo mit Eric Dolphy auf der Bassklarinette zu mündlicher Lautbildung. Er zieht die höchste, die G-Saite des Kontrabasses bis an den Rand des Griffbretts und zupft die hohen Töne wie ein leises, neugieriges Schnattern.

Dolphy erwidert mit einem Selbstgespräch, in dem er seine Wehklage mit einer Flut gellender Rufe durchsetzt, er krächzt, und seine Stimme überschlägt am Rande der Verzerrung, bevor ihn Mingus mit einem Auftakt auf den tiefen Saiten zurückholt und die Bläser die Eingangsmelodie von „What Love“ wieder gemeinsam intonieren, als wäre nichts geschehen. Die Aufnahme von 1960 ist deshalb so bemerkenswert, weil Mingus und Dolphy hier für einen Moment aus jeglichen Konven­tio­nen von Tempo und Phrasierung heraustreten und sich dem Klang selbst überlassen.

Dieselbe Stelle hatte Monate zuvor beim Konzert im französischen Antibes hörbar widerstreitende Reaktionen im Publikum ausgelöst, wovon Mingus sich nicht beirren ließ und Dolphy beim Spiel emphatisch zurief: „Talk to me!“ Man kann diese Momente als ekstatisch beschreiben, die in Stücken von Mingus nie Selbstzweck exaltierter Lärmproduktion oder technischer Angeberei sind, sondern immer eingebunden ins Fundament seiner Kompositionen.

Als Bandleader vervollkommnete Mingus jedes einzelne Mitglied seiner ­Ensembles, als begnadeter Bassist trieb er die Musiker voran, und als überragender Komponist schuf er ihnen und sich ein einzigartiges Monument in der Jazzgeschichte.

Auswüchs des Rassismus
Charles Mingus

„Meine Musik ist zornig, aber sie ist echt, weil sie weiß, dass sie zornig ist“

Geboren wird Charles Mingus am 22. April 1922 in Nogales, Arizona, er wächst in Watts auf, einem Vorort von Los Angeles. Als Kind mit afroamerikanischen, chinesisch-britischen und indigenen Vorfahren erlebt er einen der perfidesten Auswüchse von US-Rassismus: Sein Vater vermittelt ihm, er sei anderen aufgrund seiner helleren Hautfarbe überlegen, in der Hackordnung der Nachbarschaft bezeichnen sich Mexikaner als Spanier, Chinesen als Weiße, und Afroamerikaner stehen am unteren Ende – in keiner Clique wird Charles akzeptiert.

Als Kind lernt er Cello spielen, als Teenager rät ihm der Saxofonist Buddy Collette, auf den Kontrabass um- und in seine Swingband einzusteigen. Er nimmt Unterricht beim Jazzbassisten Red Callender und bei Herman Reinshagen, ehemals erster Bassist der New Yorker Philharmoniker. Außerdem lernt er Klavier an der Musikschule von Lloyd Reese, die zur Talentschmiede in Los Angeles wird, auch für Eric Dolphy.

In den 1940er Jahren spielt er den perkussiven Slap-Bass als Sideman für schmalzige Tenorsaxofonisten, röhrende Rhythm-and-Blues-Sänger_innen und temporeiche Bebop-Combos, sein Stück „Mingus Fingus“ arrangiert er erstmals für die Big Band des Vibrafonisten Lionel Hampton mit wuchtigem Bläserapparat und einem schelmischen Groove, den er schon deutlich als Walking Bass artikuliert.

Das innere Notenpapier

In Formationen vom Duo bis zur 22-köpfigen Band experimentiert er vor allem zum Ausdrucksspektrum der Bläser von Klarinette bis Baritonsaxofon und mit sich als Erzähler. 1951 zieht er nach New York, zwei Jahre später begründet er mit einer Konzertserie den Jazz Workshop, eine Werkstatt für Bands mit profilierten Musikern und wechselnden Solisten. In dem Schlagzeuger Dannie Richmond findet er einen symbiotischen Partner, die beiden spielen über 20 Jahre gemeinsam.

Mingus entwickelt eine eigene, prägende Arbeitsweise: Er notiert die Stücke auf „innerem Notenpapier“, spielt sie den Musikern auf dem Klavier und unter Einsatz seiner Stimme vor, bis ihnen die Struktur und Stimmung vertraut sind. Dabei bezieht er die individuellen Vorzüge eines jeden mit ein und überlässt ihnen selbst, wie sie das Zusammenspiel und ihre Soli gestalten.

So entstehen politisch aufgeladene Stücke wie „Haitian Fight Song“, zu dem er sagt, er könne es nicht spielen, ohne an das Unrecht von Vorurteilen, Hass und Verfolgung zu denken. Oder „Original Faubus Fables“, in dem er den Gouverneur Faubus, der gegen den gemeinsamen Schulunterricht von weißen und afroamerikanischen Kindern in Little Rock, Arkansas, vorging, mit Brüchen in Tempo, Akkorden und beißendem Sprechgesang musikalisch teert und federt.

Brief an Miles Davis

„Wednesday Night Prayer Meeting“ hingegen ist ansteckende Lebensbejahung, mit der Mingus die Kirchenmusik seiner Kindheit zelebriert. Er ist überzeugt, er könne nur aus sich selbst heraus schöpferisch sein, weshalb die vielen selbstreferenziellen Albumtitel mit seinem Namen – einmal sogar verfünffacht – keinem Narzissmus entspringen, sondern sein Bedürfnis untermauern, geerdet von Blues und Gospel, in den Fußstapfen der musikalischen Vaterfigur Duke Ellington und als ehemaliger Kollege des wegbereitenden Saxofonisten Charlie Parker, der Gesellschaft ihre eigene Folkmusic zurückzugeben und sie lebendig fortzuführen.

In einem offenen Brief an Miles Davis schreibt er 1955: „Musik ist oder war eine Sprache der Gefühle. Meine Musik ist lebendig, sie handelt von den Lebenden und den Toten, von Gut und Böse. Sie ist zornig, aber sie ist echt, weil sie weiß, dass sie zornig ist.“

Mingus’ Wutausbrüche sind gefürchtet, mitunter verprügelt er Musiker seiner Bands. Er offenbart sich aber auch radikal selbst, etwa in seiner Autobiografie „Beneath the Underdog“, die 1971 erscheint und an der er zehn Jahre geschrieben hatte. Nach Touren durch Europa und die USA und der Zwangsräumung seiner Wohnung 1966 ist Mingus ein paar Jahre abgetaucht und in psychiatrischer Behandlung.

Bis zum Herbst 1977 nimmt er wieder Alben auf und tourt, doch dann wird bei ihm ALS diagnostiziert, eine Erkrankung des motorischen Nervensystems. Schließlich ist er auf den Rollstuhl angewiesen und auf Weggefährten, die seine Kompositionen nach Anweisungen aufschreiben.

Theweleit und Mingus

Er stirbt am 5. Januar 1979 in Cuernavaca, Mexiko, im Alter von nur 56 Jahren. Sein Leichnam wird eingeäschert, auf gar keinen Fall wollte er auf US-Boden beigesetzt werden, weshalb seine letzte Ehefrau, Sue Graham Mingus, seine Asche in der nordindischen Stadt Haridwar dem Ganges übergibt.

Der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit schrieb 2008 in seiner Biografie von Jimi Hendrix von der körperverwandelnden Kraft der Musik. Später sagte er, er habe diese Kraft zuerst bei Jazz empfunden, bei Charlie Parker und Mingus. Man bekomme mit der Aufnahme von Musik eine andere Körperlichkeit, sie verlebendige den Körper, erhöhe seine Energie. Genau das bewahrheitet sich beim Hören der Musik von Charles Mingus – sie beglückt zutiefst, sie gibt Kraft und Zuversicht. Wer Mingus hört, ist nicht allein.

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