Lizzo hat eine neue Castingshow: Empowerment statt Erniedrigung

Die Sängerin Lizzo sucht in der Castingshow „Watch Out for the Big Grrrls“ neue Tänzerinnen für ihre Crew. Dabei stellt sie Reality-TV auf den Kopf.

Portrait der sieben Kanidatinnen L-R Sydney Bell, Charity Holloway, Arianna Davis, Ashley Williams, Jayla Sullivan, Asia Banks und Kiara Mooring

Die Kanidatinnen sind alle „bad bitches“ mit einer „beautiful soul“ Foto: James Clark/Amazon Prime

Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Künst­le­r*in­nen ihrer Branche überdrüssig werden und sich in anderen Bereichen ausprobieren. Dass aus Sän­ge­r*in­nen plötzlich Un­ter­neh­me­r*in­nen oder aus Models Mo­de­ra­to­r*in­nen werden, ist eher die Regel als die Ausnahme. Man denke an Rihanna, die mit Songs wie „Umbrella“ oder „Diamond“ weltberühmt wurde und mittlerweile den Großteil ihres Geldes mit ihrem Kosmetikunternehmen Fenty erwirtschaftet.

Oder Schauspielerin Gwyneth Paltrow, die das Lifestyle-Brand Goop schuf, aus dem dann Pop-up-Shops, eine Shopping-Seite, ein Podcast und eine Netflix-Serie wurde. Ob die Unternehmen oder Sendungen wirklich gut sind, spielt für den Erfolg eine untergeordnete Rolle. Ihr Name allein reicht, um die Produkte zu vermarkten.

Eine, die nun auch einen Branchenwechsel wagt, ist Melissa Viviane Jefferson. Besser bekannt ist die Rapperin und Sängerin unter ihrem Künstlernamen Lizzo. 2019 wurde die heute 34-Jährige mit ihrem ersten Studioalbum „Cuz I Love You“ weltberühmt. Seitdem hat die dreifache Grammy-Gewinnerin nicht nur an ihrem zweiten Album gearbeitet, das diesen Sommer erscheinen wird, sondern hat auch ein Unternehmen für Shapewear gegründet und eine eigene Castingshow ins Leben gerufen. Und dabei ganz nebenbei das Prinzip von Reality-TV auf den Kopf gestellt.

Denn statt Erniedrigung geht es in der Sendung – es klingt nach einer abgedroschenen Worthülse – um Empowerment der Kandidatinnen.

In der Show „Watch Out for the Big Grrrls“, die Ende März in den USA angelaufen ist und ab dem 13. Mai in Deutschland bei Amazon Prime zum Streaming bereitsteht, sucht Lizzo Tänzerinnen für ihr Ensemble. Bei den einschlägigen Agenturen habe sie keine Frauen gefunden, deren Körper ihrem eigenen ähneln, erklärt sie in der ersten Episode.

Dreizehn Kandidatinnen zwischen 22 und 35 Jahren dürfen nun also vor der Sängerin vortanzen. „Curvy“ ist von ihnen niemand, sie sind alle „big“. Nach einem kurzen Vortanzen treten die Kandidatinnen in einem Dance Battle gegeneinander an. Spätestens als Kandidatin Sydney nach einem Flickflack aus dem Sprung heraus im Spagat landet, ist klar: In dieser Sendung soll es nicht um die Frage gehen, ob dicke Menschen tanzen können, ob sie fit und sportlich sein können – sondern eher, warum die Gesellschaft das bis heute noch nicht verstanden hat.

Lizzos Attitüde ist in der Show ähnlich wie in ihren Songs

Während zwei Frauen die Show nach den Dance Battles verlassen müssen, darf eine Kandidatin direkt ein Teil der „Big Grrrls“ werden – sie ist einfach zu gut. Die übrigen zehn kämpfen in den folgenden sieben Episoden darum, beim „Bonnaroo Music and Arts Festival“ im Juni mit Lizzo auf der Bühne zu stehen und langfristig Teil ihrer Tanzcrew zu werden. Jede soll in den je rund einstündigen Episoden beweisen, dass sie die Kondition, die sportlichen Fähigkeiten und das Gedächtnis hat, um sich schnell Choreografien zu merken.

Die „Fuck the Haters“- und „I Love Myself“-Attitüde, die Lizzo in den vergangenen Jahren in ihren Songs und auf der Bühne perfektioniert hat, schlägt sich auch in der Sendung nieder. Es wird viel über Body Positivity, Selbstliebe und Repräsentation gesprochen. Die Kandidatinnen sind allesamt „bad bitches“ mit einer „beautiful soul“. Sie halten sich an den Händen, stehen im Kreis, sie beten zu Gott.

Doch es wird nicht heile Welt gespielt. Manche teilen ihre Familiengeschichten, in denen auch Obdachlosigkeit, Aufwachsen in Armut und tödliche Polizeigewalt eine Rolle gespielt haben. Sie erzählen von rassistischen, sexistischen oder dickenfeindlichen Erfahrungen, von Mobbing und struktureller Diskriminierung, die sie erfahren haben. Und wie sich das in der Tanzwelt ausgedrückt hat.

Die 33-jährige trans Tänzerin Jayla Sullivan erzählt, dass sie nie so angenommen wurde, wie sie ist: „Vor meiner Transition war ich zu dick und zu weiblich, dann habe ich meine Transition begonnen, und mein Körper war immer noch dick. Also war ich zwar immer noch dick, aber dieses Mal zu maskulin.“ Die Sendung gibt den Geschichten der Kandidatinnen Raum, ohne sie darauf zu reduzieren.

Auch Lizzo wird persönlich. Während der Dreharbeiten veröffentlicht sie ihr Musikvideo zu ihrer neuen Single „About Damn Time“. Ein Disco-Track, in dem sie das Überleben nach so vielen schweren Traumata und Erfahrungen feiert. Der Song steigt sofort weit oben in die Charts ein, die Kritiken sind gut – doch wie immer, wenn Lizzo etwas veröffentlicht, sind die Kommentare auf Youtube, Tiktok und bei Instagram auch beleidigend, diskriminierend, manche strafrechtlich relevant.

Hass hört nicht auf, wenn man berühmt wird – im Gegenteil. Unter Tränen erzählt sie den Teilnehmerinnen von den Kommentaren von ihrem Video und sagt: „Es ist schwer, sich selbst zu lieben in einer Welt, die dich nicht zurückliebt.“ Kurz darauf legt sie ihren Morgenmantel ab und twerkt in Unterwäsche. Diese Mischung aus „I don’t give a fuck“-Haltung und dem Raum für Angst, Verletzungen und Tränen macht die Show so sehenswert.

Diese Mischung, die auch in den Songs von Lizzo zum Ausdruck kommt, hat Lizzo zur Galionsfigur der Body-Positivity-Bewegung gemacht. Während der Hass täglich auf sie einprasst, postet sie weiter fröhlich nackt für ihr nächstes Instagram-Foto oder twerkt in einem Tanga.

„Die Show muss weitergehen“

Wer wie Lizzo als Heldin stilisiert wird, kann tief fallen. Und so wird die Sängerin auch regelmäßig von den eigenen Fans kritisiert: Nach einer zehntägigen Saft-Detox-Kur, die sie bei Instagram geteilt hatte, gab es harsche Kritik. „Verrat“ wurde ihr vorgeworfen. Ähnlich war es, als sie „Yitty“ vorstellte – ihr Unternehmen für Shapewear. Früher in Deutschland als „Bauchweg“- oder „Fettweg“-Unterwäsche bekannt, ist Shapewear in den vergangenen Jahren hip geworden. Als moderne Form der Korsetts soll es den Körper in Form drücken.

Dass Lizzo Shapewear – wohlgemerkt bis Größte 6XL – auf den Markt bringt, ist widersprüchlich. Denn wie geht das zusammen: Predigen, seinen Körper lieben, wie er ist und dann Unterwäsche auf den Markt bringen, die einen dünner und fitter aussehen lässt? Gegenüber der New York Times reagierte Lizzo auf die Kritik: „Ich verkaufe die Mentalität: ‚Ich kann mich meinen Körper machen, was ich will, tragen, was ich will, und mich dabei gut fühlen.‘“

Auch im Vorfeld der Castingshow kamen kritische Stimmen zu Wort, schließlich haben diese keinen sonderlich guten Ruf. Gerade bei Shows wie „Germany’s Next Topmodel“ zeigt sich, wie die Kandidatinnen als „Ware“ behandelt werden und in absurden Prüfungssituationen gegeneinander antreten müssen, damit das Publikum unterhalten wird. Sie müssen gängigen Geschlechterklischees entsprechen, und regelmäßiges Bodyshaming gehört zum Programm. Verschiedene Studien zeigen, dass es bei den Zu­schaue­r*in­nen einen Zusammenhang zwischen der Sendung und Essstörungen gibt. Ein Zustand, der sich nicht dadurch beheben lässt, wenn auch ein paar „curvy“ Models teilnehmen.

Vorwürfe dieser Art laufen bei „Watch Out for the Big Grrrls“ ins Leere. Denn auch hier gibt es zwar Challenges und Aufgaben, doch sie dienen nicht dazu, die Kandidatinnen zu erniedrigen. Viel mehr orientieren sie sich am Alltag aus Lizzos Tänzerinnencrew: schnell eine neue Choreografie zu lernen beziehungsweise selbst zu erarbeiten oder eine Treppe hinauf oder herunter zu tanzen.

Als es zur „Umstyling“-Folge kommt, werden Kandidatinnen nicht – wie bei GNTM – dafür bestraft, wenn sie mit den Ideen der Kreativen unzufrieden sind. Sondern sie dürfen sich aussuchen, wie ihre „Stage Persona“ aussehen soll. Als Kandidatin Isabell sich bei einem Nacktshooting nicht ausziehen möchte, weil sie Angst hat, die Nacktbilder könnten ihren Plan B, Lehrerin in Südkorea zu sein, zerstören – ist das total in Ordnung.

Dass die Branche aber trotz liebenswürdigem Umgang untereinander eine harte ist, wird immer wieder klar: Als sich in der ersten Folge eine der Frauen verletzt, sagt Tanzcoach Tanisha Scott, die auch schon mit Rihanna, Beyoncé und Drake gearbeitet hat: „Wer sich verletzt, muss sich auskurieren. Doch auch wenn es nach einem Klischee klingen mag: Die Show muss weitergehen. Eine Tanzverletzung ist das Schlimmste, das dir passieren kann, denn du kannst schnell ersetzt werden.“

Und verletzt wird sich in der Show nicht nur einmal. Diese Härte der Trainerin und auch der wechselnden Jury wirkt nicht wie Schikane, sondern bereitet die Tänzerinnen auf die Realität vor – wie es aussehen könnte, wochenlang mit Lizzo auf Welttournee zu gehen.

Mit „Watch Out for the Big Grrrls“ wird Lizzo weder die nächste Revolution anzetteln noch die Welt retten. Es ist und bleibt Fernsehen. Doch wenn eine Castingshow es schafft, dicken, Schwarzen oder/und trans Menschen ein Gefühl der Repräsentation und Sichtbarkeit zu geben, ihnen das Gefühl zu vermitteln: Es ist okay, dass ihr existiert und dass ihr Raum einnehmt, dann ist das schon eine ganze Menge. Und selbst wenn das nicht bei je­de*r Zu­schaue­r*in funktioniert: Gute Unterhaltung ist die Castingshow in jedem Fall.

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