Debütroman über dysfunktionale Familie: Lauter Schieflagen

Yade Yasemin Önder lässt es scheppern. In ihrem Debüt „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“ erzählt sie von körperlichen Exzessen.

Portträt Yade Yasemin Önder

Yade Yasemin Önders Debüt ist ästhetisch wie politisch vielschichtig Foto: Carolin Saage

Schon die Einstiegsszene ist ein verrückt-symbolisches Familienmärchen. Eine namenlose Erzählerin skizziert die Umstände ihrer Geburt: Auf einer Wiese sei sie auf die Welt gekommen, und zwar „ein Jahr nach Tschernobyl“. Dort habe der Vater eine „Dreizimmerwohnung im Park“ gebaut, auf „Grashalme und Moos“ ausgebleichte Gegenstände gestellt. Ein marodes Heim auf feuchtem Boden, die „Füße faulten sicherlich, doch das war uns egal.“ Eine merkwürdige Bleibe, vor allem im Winter, „aber meine Mutter bestand nicht auf einer Badewanne“.

So rätselhaft die Metaphern zunächst erscheinen, so konzentriert und kraftvoll schleudert sich zu Beginn die Erzählinstanz in eine Romanwelt, die vor allem von chaotischen und niederschmetternden Verhältnissen handelt.

2018 gewann Yade Yasemin Önder mit „bulimieminiaturen“ den Berliner Literaturwettbewerb Open Mike. Aus dem preisgekrönten Skript ist in der Zwischenzeit ein kleinteiliger Roman entstanden, der den sperrigen, aber durchaus passenden Titel „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“ trägt. Idyllen gibt es in dieser Familiengeschichte nur in Bruchteilen.

„Schieflage“ ist ein sprechendes Wort, das immer mal wieder eingestreut wird. Ständig passiert etwas Grauenhaftes, das auch den literarischen Gesamtkontext zersplittert. Synchron scheinen nur die Niedergänge zu verlaufen, etwa wenn Vater und Tochter in die Tiefe eines Schwimmbeckens hinabsinken. Einmal stürzt der stark übergewichtige Papa in eine sich drehende Kreissäge. Das achtjährige Kind sieht überall Blut, „wie in einem Menschenschlachthaus“.

Magersucht und Wurstsemmel

Die Fettleibigkeit aber bleibt auch nach dem Tod des Vaters ein Menetekel. Weil die Tochter daheim mit riesigen Lebensmittelmengen konfrontiert ist, versucht sie sich vom Elternhaus auch durch eine selbstzerstörerische Magersucht zu distanzieren. Je mehr Wurstsemmeln „mit extra Schmalz“ von der übergriffigen Mutter auf den Tisch gestellt werden, desto schneller scheint das Mädchen abzunehmen.

Das Buch bietet damit nicht nur ein Familiendrama, sondern auch eine bittere Coming-of-Age-Geschichte. Die physische und psychische Identitätssuche ist besonders beschwerlich, da die Eltern der deutschen Mutter regelmäßig ressentimentgeladene Bemerkungen über die türkische Herkunft des Vaters machen.

Yade Yasemin Önder: „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2022, 256 Seiten, 22 Euro

Beim Leichenschmaus, zu dem es „Torte und Frikadellenbällchen“ gibt, spricht die „Mutteroma“ von den „Orientalischen“, wenn die türkische Verwandtschaft gemeint ist. Die Erzählerin sitzt hilflos dazwischen, fühlt sich als „Mischling aus meiner Mutter und meinem Vater“ – auch weil der Opa sie so bezeichnet.

Statt den Irrsinn solcher Formulierungen, das Abschätzige dieser Denkweise zu erkennen, simulieren die Deutschen wohlmeinendes Interesse und führen sich auf wie im Zoo: „Angeregt werden nun die Fremden in all ihrer Befremdlichkeit betrachtet.“ Dass die türkischen Gäste keine Bratlinge aus gemischten Hack essen, begreift die deutsche Seite erst, als das Besteck der entsetzten Muslime auf Teller und Boden fällt.

Alltag in der BRD

Es sind keineswegs neue Geschichten, die Önder über den ignoranten Alltag in der alten Bundesrepublik erzählt. Was ihren Text aber ungewöhnlich und furios macht, ist die eigenständige Tonlage, nämlich ihr rasanter und nahezu surrealer Sarkasmus: „Aus Respekt vor der Kreissäge, die meinen Vater zersägt hat, gibt es keine Messer bei der Feier.“

Önders Prosa lebt vom schroffen Sprachspiel, von der rotzigen Pointe. Die gelingen der Autorin insbesondere in jenen Kapiteln, die von Versuchen der bald pubertierenden Erzählerin handeln, mit notgeilen Jungs anzubandeln.

Die Kontaktaufnahme geht reihenweise schief, und oft liegt es am Essen, dass sich aus der erotischen Verheißung eine körperliche Horrorvision entwickelt: „Als das matschige Tiramisu auf die Teller klatscht, fällt mir plötzlich sein schwulstiger Arsch auf. Das war doch vorher nicht so? Innerhalb von Sekunden wächst und wächst der weiter, wird so groß, dass er sich auf gleich zwei Stühle setzen muss.“

Kein Wunder, dass in der Mitte des Romans eine lange und lustige Liste mit Liebhabern zu finden ist, in der die kuri­sesten Gründe aufgeführt werden, warum sich der eine oder andere disqualifiziert hat. „Einer ejakuliert Schafskäse“, heißt es beispielsweise zu Typ Nr. 22.

Erzählen als Therapie

Was amüsant daherkommt, zeigt auch die Untiefen der Erzählerin. Die Mutter weiß mit den Hilferufen des kotzenden und herumvögelnden Teenagers leider nicht umzugehen. Das bulimische Mädchen landet bald in einer Klinik, in der zwar Medikamente verschrieben werden, die „das Symptom“ in Schach halten, doch die Ursachen für das haltlose Leben werden damit nicht angegangen. Erst das Erzählen der vielen schmachvollen Erlebnisse scheint zum wirksamen Therapeutikum zu werden.

In den Erinnerungsfragmenten werden aber nicht nur die eigenen Erfahrungen umkreist, sondern auch die Demütigungen, die der Vater als Kurde in der Türkei zu ertragen hatte. Dabei geht es Önder nicht darum, Leerstellen zu füllen, allerlei Gründe nachzuzeichnen, die etwa zur Fressmanie des Vaters und zur Magersucht der Tochter geführt haben könnten. In ihren Suchbewegungen setzt die Autorin auf das literarische Verfahren der grotesken Variation, das neue Sichtweisen auf die Geschehnisse und damit auch auf das Erzähl-Ich ermöglicht.

In einem zentralen Kapitel wird zunächst ein gewaltsamer Sexualakt beschrieben, der dann so variiert wird, dass im Zusammenspiel vollkommen verschwimmt, wer in der Szene tatsächlich gewalttätig geworden ist. Was aber heißt es für das Erinnern und ganz generell für das literarische Schreiben, wenn Erzählungen doch nur eine unter vielen Wahrheiten enthalten?

Die 1985 in Wiesbaden geborene Önder verweist im Nachklapp auf den französischen Surrealisten Raymond Queneau, der in seinen „Stilübungen“ ein ähnliches Verfahren angewendet hat. Dieser literarische Bezugsrahmen ist auch deshalb so überraschend, weil er sich von der ästhetischen und politischen Eindimensionalität nicht weniger Migrations- und Identitätsgeschichten, die in den vergangenen Jahren hierzulande erschienen sind, deutlich abhebt.

Yade Yasemin Önder lässt es scheppern, versteht sich aber auch auf die leisen Töne. Sie kann Sätze formulieren, die sich wie expressionistische Gedichtzeilen lesen. Und sie hat ein Gespür für literarische Komik, die nicht nur die Lesenden, sondern eben auch die leidenden Figuren brauchen. Was ein vielversprechender Debütroman.

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