Erzähltes Sachbuch über das Jahr 1816: Was vor 200 Jahren begann

Sich die Welt untertan zu machen, diese Möglichkeit schien 1816 nah. Zeitgleich drohte die Apokalypse. Timo Feldhaus erzählt von einem besonderen Jahr.

Szene aus dem Film "Frankenstein" mit dem Hauptdarsteller Boris Karloff

1816 schrieb Mary Shelley ihren „Frankenstein“. Szene aus der Verfilmung mit Boris Karloff Foto: imago

Das Jahr 1816 war das kälteste Jahr seit der Aufzeichnung der Temperaturen. Denn im Jahr zuvor hatte der indonesische Vulkan Tambora ausgespuckt, was er konnte. Ein riesiges Ereignis, mit der „Kraft von zehntausenden Hiroshima-Bomben“.

Davon – unter anderem – handelt das Buch „Mary Shelleys Zimmer“ von Timo Feldhaus. Es ist ein Jahrbuch, wenn man so will, über das Jahr nach dem Ausbruch. Asche- und Schwefelwolken verdunkelten Teile der Welt, verhinderten den Sommer, minimierten Ernten, sorgten für Tod und Krankheit. Das Klima änderte sich. Die Menschen waren in ihrem Zuhause gefangen, waren der Welt oder der Wissenschaft gegenüber skeptisch. Es waren die Anfänge der industriellen Revolution, die Maschinen fürchteten sie auch. Im Jahr 1816 also fing alles Übel an. Vielleicht.

Timo Feldhaus ist sonst Kulturjournalist für all die coolen Magazine von De:­Bug bis 032c. Er war Redakteur von Spike Art Quarterly oder Freitag und schreibt sehr fein über Schnürsenkel, gentrifizierte Tankstellen oder moralphilosophisch kategorisiertes Brot. Er hat also schon immer zwischen Literatur und Journalismus gewirkt (für die taz hat er auch schon geschrieben). Und jetzt dieses irre Buch.

Irre nicht nur deswegen, weil er keinen nachdenklichen Essayband über sein fragiles männliches Ego schreibt, wie es grad in der Identitätsliteratur so angesagt ist, oder über seine Zeit als Chefredakteur bei der Volksbühne, in den merkwürdigen Monaten unter Chris Dercon, einen Enthüllungsroman zum Beispiel. Nein, er schreibt über das Schicksalhafte in der Geschichte. Die Anfänge des Anthropozäns, unserer Idee der Romantik, über die Entstehung der Vernunft.

Timo Feldhaus: „Mary Shelleys Zimmer“. Rowohlt, Hamburg 2022, 320 Seiten, 26 Euro

Ein wahnsinnig aufwendig recherchiertes Buch ist das, von dem man nicht genau sagen kann, ist es Sachbuch oder Roman? Erzählendes Sachbuch ist wohl die Bezeichnung. Es stecken hundert Geschichts-, Tagebücher und Essaybände in diesem Buch, so dicht ist es erzählt. Man möchte es mindestens zweimal lesen.

Der Erzähler ist mittendrin

Denn im Jahr 1816 passierte allerhand und Feldhaus ist mittendrin. Goethe entdeckte die Wolkentheorie, Caspar David Friedrich malte besonders dramatische Himmelsbilder, Napoleon Bonaparte grämte sich auf Sankt Helena und vermutete das Wetter als Grund für seine Niederlage von Waterloo, Lord Byron wurde als skandalträchtiger Stardichter zur ersten Celebrity, Friedrich Ludwig Jahn stählte turnend die deutschen Körper und das nationale Bewusstsein.

Und Mary Shelley schrieb, nachdem Byron einen Schreibwettbewerb ausrief, bei dem die teilnehmenden Männer nicht allzu viel zustande brachten, ihren „Frankenstein“. Und zwar in Genf, einer Gegend, die von den Auswirkungen des Vulkans besonders hart getroffen war. Das Buch, das als erste Science-Fiction-Literatur in die Geschichte einging, über ein Monster, das vielleicht nur böse wurde, weil sein Erschaffer es nicht lieben konnte. Das erst anonym erschien und das man – weil das Vorwort von Marys Mann Percey B. Shelley unterzeichnet war – lange ihm zuschrieb.

Dass sich Feldhaus Shelleys annimmt, die vor zehn Jahren die Anfangsidee zu seinem Buch lieferte, liegt nicht nur an ihrem dramatischen Leben – von Tod umgeben und erfolglos –, sondern auch an ihrem visionären Geist: „Eines ihrer Bücher ist genauso hellseherisch wie ihr Debüt“, schreibt Feldhaus im Epilog, „Der letzte Mensch spielt im Jahr 2092, in dem sich eine Seuche auf der Erde ausbreitet.“

Goethe und Caspar David Friedrich

Und eben das lotet Feldhaus aus: Was begann vor 200 Jahren, das noch heute zählt? Kann es Vorboten in der Geschichte geben? Oder entsteht hellseherische Deutung erst in der Nachinterpretation von Geschichte? Dafür schneidet er ein illustres Figurenkabinett in- und aneinander, bekommt es ohne lähmende Ehrfurcht in den Griff.

Man merkt ihm die Freude beim Schreiben an, wenn er Goethe und Friedrich, der vom Dichter beauftragt war, ihm Wolken zu malen, in lustig leichten Dia­logen gegeneinander antreten lässt. Wie er große Männer an sich zweifeln lässt. Wie Percey, der Vegetarier, die patriarchal geprägte Zweierbeziehung abschaffen will. Wie er Szenen von Homo-Sex und Kannibalismus inszeniert. Immer alles voller Hinweise.

Und so geht es um den Einfluss des Menschen auf den Planeten, es geht um Technikfortschritt, künstliche Intelligenz, um die Frage nach Vernunft, es geht um Frauenrollen, um Konventionen, um Rebellion, um den Menschen, der glaubte, die Welt vielleicht bald bezwingen zu können, aber die Zeichen des Himmels nur als über ihn kommende Apokalypse deuten konnte. Aktuelle Themen.

Über das Heute erzählen

Und weil das Jahr 1816 erstaunlich viel über das Heute erzählen zu können scheint und weil Feldhaus diese wichtigen Figuren der Geschichte nimmt und sie fühlen lässt, leben, labern, anstatt sie nur neben ihre Jahreszahlen zu setzen, ist ein Buch entstanden, das sich auf entzückende Weise der Welt stellt.

Feldhaus lässt uns wahrnehmen: Geschichte geschieht nicht nur, sie wird gemacht. Die Welt ist Natur, sie geschieht mit dem Mensch als Beeinflusser. Das ist tragisch. Aber Feldhaus hat tatsächlich noch Hoffnung in den Menschen, vielleicht ein ganz bisschen mehr in die Frauen. Und diese Hoffnung überträgt sich.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.