„Ich werde es kaum mehr schaffen, Laotisch zu lernen“

DER SCHRIFTSTELLER André Kubiczek hat mit „Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn“ seinen fünften Roman geschrieben – den ersten, der autobiografisch ist. Ein Gespräch über laotische und ostdeutsche, glückliche und traurige Familiengeschichten, eine Kindheit in der DDR der frühen Siebziger, in der man ganz allein war, wenn man anders aussah als die anderen, und über das Ostberlin der Nachwendezeit

■ Der Autor: André Kubiczek wird 1969 in Potsdam geboren. Sein Debütroman „Junge Talente“ handelt vom Ausbruch eines rebellierenden Teenagers aus der DDR-Provinz. Der begegnet in Ostberlin Punkern, Anarchisten, Lyrikern und Hippies und lernt die Mädchen und den Schnaps so lieben, dass ihn die Autorität des Staates immer weniger beeindruckt. Es folgen Berlin-Romane über arbeitslose Akademiker, Mittdreißiger zwischen Studium und Generation Praktikum und abgestürzte Kolumnisten, die ihren Liebeskummer im Wein ertränken. 2007 erhielt Kubiczek den Candide-Preis.

■ Das Buch: Kubiczeks im März erschienener Roman „Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn“ (Piper 2012, 479 Seiten, 22,99 Euro) ist autobiografisch inspiriert. Der Autor verarbeitet seine Erlebnisse in der DDR als Kind deutsch-laotischer Eltern – zu einer Zeit, als im dortigen Straßenbild noch kaum Menschen anderer Hautfarbe auftauchten.

INTERVIEW SUSANNE MESSMER
FOTOS DAGMAR MORATH

taz: Herr Kubiczek, Ihr jüngster Roman erzählt die Liebesgeschichte eines Arbeitersohns und der Tochter des laotischen Botschafters, die in der DDR der 70er Jahre eine Familie gründen. Er ist auch die Geschichte ihres „lieben Sohns“, der fast am folgenschweren Unfall seines Bruders und dem frühen Krebstod der Mutter zugrundegeht, als junger Mann versucht, sich von all dem abzugrenzen, und doch viele Jahre später in Laos auf Spurensuche geht. Welchen Teil dieser Geschichte haben Sie selbst so erlebt?

André Kubiczek: Ein großer Teil ist autobiografisch: Die Familienverhältnisse sind meine. Meine Mutter war wirklich die „laotische Prinzessin“, die ich beschreibe. Aber es ist auch viel Fiktionales dazugekommen. Ich habe in Halle Abitur gemacht, weil ich in den auswärtigen Dienst wollte. Nach der Wende habe ich in Leipzig begonnen zu studieren, dann ging ich nach Bonn und kam erst 1994 nach Berlin. Das alles steht so nicht im Buch. Aber ich brauchte diese Erzählung, diesen erfundenen Helden im Berlin der Nachwendezeit.

Warum?

Ich hätte das Buch nicht anders schreiben können. Und bei aller Dramatik hätte die Wirklichkeit meiner Familiengeschichte kein ganzes Buch hergegeben.

Warum nicht?

Weil ich an die wirklichen Geschichten nicht gut rankomme. Die Hauptperson – meine Mutter – ist tot und kann nicht mehr berichten. Und mein Vater spricht nicht viel über seine Gefühle, er behält alles für sich. Eine Sitzung mit ihm, die ja auch im Buch beschrieben ist, war mehr als genug. Ich wollte ihn nicht noch mehr strapazieren.

Haben Sie das Gefühl, Ihrer Familiengeschichte nun nähergekommen zu sein?

Ich habe mich überhaupt zum ersten Mal mit ihr beschäftigt. Ich hatte das immer verdrängt, weil es zu schlimm war. Erst jetzt habe ich gemerkt, dass die Krankheit meines Bruders und die meiner Mutter alles verschattet haben, was einmal schön gewesen ist.

Könnte man sagen, dass es in Ihrem Buch weniger darum geht, was mit Ihrer Familie war, als darum, wie man mit so einem Trauma überlebt?

Das könnte man so sagen. Vieles vom dem, was ich schildere, habe ich als Kind erlebt und wusste nicht, womit genau ich es zu tun hatte. Vieles will man als Kind einfach nicht wissen. Und das wollte ich versuchen abzubilden.

Haben Sie sich mit dem Buch etwas von der Seele geschrieben?

Man darf das ja heute gar nicht mehr sagen, ohne sich damit lächerlich zu machen. Aber es stimmt trotzdem: Indem man es aufschreibt, bannt und fixiert, hat man es in gewisser Weise vom Tisch und kann sich danach besser anderen Dingen widmen.

Sie hatten ein inniges Verhältnis zu Ihrer Mutter?

Wir waren eine klassische Familie der Siebziger. Kinder und Haushalt waren Angelegenheit der Mutter, obwohl sie wie viele Frauen in der DDR auch gearbeitet hat. Die Kinder waren damals meist näher an den Müttern. Die Väter standen immer ein Stück weiter hinten und waren nur am Sonntag beim Ausflug präsent.

Es gibt in Ihrem Buch eine Szene, in der Sie mit ihrer Mutter einen Tag am Alexanderplatz verbringen, einkaufen und Eis essen gehen. Da scheint der gesamte Ort mit purem Schmelz überzogen, es wirkt beinahe nostalgisch.

Das war aber auch toll da! Ich habe mit meiner Mutter wunderschöne Tage dort verbummelt. Der Alexanderplatz war immer voller Leute – viele von ihnen kamen aus der Provinz. Für die war es ein Riesenerlebnis, da einkaufen zu gehen und die hauptstädtische Atmosphäre zu genießen. Die Currywurst, die Mokka-Milcheis-Bar, den Palast der Republik …

Wie gefällt es Ihnen heute dort?

Es gibt immerhin noch den Brunnen der Völkerfreundschaft und die Weltzeituhr, aber sonst ist architektonisch alles viel zu sehr verdichtet worden. Dieses Gebäude, wo jetzt Saturn und Esprit drin sind, das verstellt den Blick total. Die Weite ist im Eimer. Aber vielleicht kann sich der Kapitalismus einfach auch so eine Weite nicht leisten. Genauso, wie Neubaugebiete im Kapitalismus nicht funktionieren und automatisch zu Ghettos werden.

Ihr Buch ist auch eine Spurensuche. Der Held geht nach Laos, um den Teil seiner Familie wiederzufinden, der durch den Tod der Mutter verschüttet wurde.

Meine Mutter hatte elf Geschwister. Und das wächst immer weiter, wie ein Pilz. Eigentlich gut, oder?

Beneidenswert.

Die Familie in Laos war sehr offen im Vergleich zu der in Deutschland. Es handelt sich um einen echten Clan, die Generationen treffen sich und sprechen ständig miteinander. Es werden permanent ganze Restaurantsäle angemietet, oder man trifft sich zu Hause und bringt einander etwas zu essen mit. Ich war 2007 in Laos und habe da alle meine Verwandten gesehen, die ich dreißig Jahre nicht getroffen hatte. Das war für mich der Anlass, die gespaltene Persönlichkeit, die ich als Deutscher und Laote bin, zu beschreiben – und was für positive Seiten das hat. Denn als ich dort gelandet bin, war das für mich eine glückliche, fast utopische Wendung.

Warum kam diese Wurzelsuche so spät?

Es hätte viel früher keinen Sinn gemacht, sich damit zu befassen. Wenn es vor 1989 eine reale Chance gegeben hätte, nach Laos zu kommen, wäre vielleicht alles anders gekommen. Ich denke schon, dass meine Mutter auch deshalb nie versucht hat, mir die Sprache beizubringen. Wir sind davon ausgegangen, dass wir für immer im Ostblock festsitzen.

Und wie ist Ihr Verhältnis zu Ihrer laotischen Familie heute?

Der Kontakt ist wieder etwas eingeschlafen. Ich weiß auch nicht, wie sich das jetzt weiterentwickelt. Nach der Reise habe ich mir Lehrbücher gekauft, aber ich glaube, ich werde es kaum mehr schaffen, Laotisch zu lernen. Man kann das ja fast nirgends lernen, und fürs Selbststudium bin ich zu alt und undiszipliniert. Diese Aufgabe muss vielleicht meine Tochter übernehmen, falls sie daran Interesse entwickeln sollte. Auf jeden Fall werde ich irgendwann einmal mit ihr nach Laos fliegen und ihr diese ganze Familie vorstellen.

Noch mal zur Kindheit im Roman: Sie beschreiben Ihre Sehnsucht, zu sein wie alle anderen, in der Masse unterzugehen.

In den frühen Siebzigern war man in der DDR ganz allein, wenn man anders aussah als die anderen. Die vietnamesischen und afrikanischen Vertragsarbeiter, die trotz aller Abschottung im Stadtbild präsent waren, kamen ja erst in den Achtzigern.

Wurden Sie diskriminiert?

Der tägliche Rassismus war damals gar nicht so schlimm, wie man sich das heute vorstellt. Es hat mich als Kind natürlich genervt, wenn man tuschelte oder ich als „Chinese“ bezeichnet wurde. Aber wirklich aggressiv wurde es nie. Die Erwachsenen waren auf unbeholfene Art neugierig, und die Kinder waren, wie Kinder nun mal sind.

Die Fremdenfeindlichkeit in der DDR kam also später?

Zum ersten Mal ist mir das Mitte der achtziger Jahre aufgefallen. Da war ich viel in der Punk- und New-Wave-Szene unterwegs.

Ein interessanter Sprung: vom kleinen Jungen, der nicht auffallen will, zum Waver.

Stimmt. In der DDR Waver zu sein, das war nicht so leicht. Man wurde ja in der Schule darauf angesprochen, wenn man so rumlief. Vielleicht war es eine Art Kompensation, dass ich Waver geworden bin. Wenn man schon nicht in der Masse untergehen kann, dann möchte man wenigstens besonders grell herausstechen.

Und als Waver sind Ihnen die ersten Nazis begegnet?

Viele Skinheads haben sich direkt von unserer Szene abgespalten, auch explizite Nazi-Skinheads. Sie kamen im Prinzip aus dem gleichen Diskotheken-Umfeld der Subkultur wie wir. Das war in Berlin ganz genauso.

Wie erklären Sie sich das?

Ich kann da nur die gängigen Erklärungen wiederkäuen. Es hängt wohl viel mit dem staatlich verordneten Antifaschismus zusammen. Es war die extremste Art der Opposition.

Gab es das damals schon: dass Rechtsradikale Rückhalt in den Dörfern hatten?

Damals gab es noch keine Nazis in den Dörfern. Das hat alles in den Städten angefangen und ist erst später in die Provinz durchgesickert. Außerdem: Die Stasi hat die Neonazis sogar noch aggressiver bekämpft als die Punks. Nazis haben das Image der DDR einfach noch mehr beschädigt.

Im Ostberlin der Nachwendezeit waren die ehemaligen Vertragsarbeiter aus Vietnam sehr präsent, die versuchten, irgendwie in Deutschland zu bleiben. Wie empfanden Sie die?

„Ich gucke mir manchmal mit Google Maps den Stadtrand in Marzahn an. Da ist es eigentlich ganz schön“

Ich wurde komischerweise nie für einen gehalten. Eher hielten sie mich für irgend so einen Kanaken, den man nicht richtig einordnen kann – so, wie ich in Laos hin und wieder für einen Südamerikaner gehalten werde. Obwohl: Ich hätte es sogar ganz interessant gefunden, mal für einen Vietnamesen gehalten zu werden. Wenn man mal so überlegt, wie es denen kurz nach der Wende ergangen ist. Und was viele daraus gemacht haben. Die haben es echt geschafft. Und ihre Kinder erst recht. Die sind besser in der Schule als ihre deutschen Klassenkameraden. Das finde ich wirklich spannend.

Sie schreiben, der Prenzlauer Berg, in den Sie Ihren Romanhelden kurz nach der Wende versetzen, sei heute völlig unbewohnbar geworden. Im wirklichen Leben wohnen Sie noch hier.

Ja, ich wohne noch hier. Aber es wohnen auch noch viel mehr Leute hier, die bereits kurz nach der Wende kamen. Ich glaube, die Leute sind gar nicht so reich, wie es aussieht. Viele Medienleute in diesem Bezirk leben in sehr prekären Verhältnissen. Neulich habe ich irgendwo gelesen, dass die Bewohner von Prenzlauer Berg viel mehr von ihrem Einkommen für Miete ausgeben als die in anderen Bezirken. Das alles ist hier sehr teuer erkauft.

Würden Sie gern wegziehen?

Das geht leider aus privaten Gründen nicht. Aber ich gucke mir manchmal mit Google Maps den Stadtrand in Marzahn an. Da ist es eigentlich ganz schön. Da gibt es Straßen, wo auf der anderen Seite Felder und Wälder beginnen und Bäche fließen.

Was halten Sie davon, dass alle Welt über die Mütter von Prenzlauer Berg schimpft?

Das finde ich sehr lustig.

Aber Sie sind doch selber Vater!

Dass die Eltern hier so sind, wie sie sind, das liegt, glaube ich, auch daran: Wir gehen zu viel mit unseren Kindern gemeinsam raus und beaufsichtigen sie zu sehr. Früher sind die Kinder in riesigen Banden durch die Stadt gezogen, auch in Berlin, auch in Prenzlauer Berg. Das geht ja jetzt allein deshalb nicht mehr, weil die Brachen, die Hinterhöfe, wo man so herrlich im Müll spielen könnte, dass das alles zugebaut worden ist. Das macht die Stadt total eng. Unangenehm, wie ich finde. Die Eltern können gar nicht anders, als sich zu wichtig zu nehmen und zu ängstlich zu sein. Zu wenig Fürsorge ist nicht gut. Zu viel Fürsorge ist penetrant. Aber es stimmt: Ich mache es im Grunde auch nicht anders als die anderen.

Sie sind auch kein junger Vater mehr, oder?

Ja, es hat auch was mit dem Alter zu tun. Mit Anfang vierzig lässt der Optimismus nach. Man wittert überall Gefahr und Möglichkeiten zu stolpern, und das schlägt sich auch auf die Kindererziehung nieder.

Empfinden Sie Ihr Leben als Autor ebenfalls als prekär?

Ich habe mich dafür entschieden, weil ich gar nicht mehr die Chance habe, etwas anderes zu machen. Es gibt keine Jobs mehr für Leute wie mich, für Leute in meinem Alter mit Biografien wie meiner. Die Wahlmöglichkeiten werden weniger.

Das klingt ganz schön pessimistisch.

Ja. Andererseits habe ich kürzlich gelesen, dass sich heute sehr viele Zwanzigjährige große Sorgen um ihre Rente machen. Da weiß ich dann auch nicht mehr, ob die noch richtig ticken. Aber vielleicht war die Umfrage auch nur ein neuer Werbegag der Versicherungsindustrie.