Baz Luhrmanns Film „Elvis“: Ekstase durch Hüftschwung

Baz Luhrmanns Spielfilm „Elvis“ geht es nicht darum, die Wahrheit über den King zu sagen. Er hat die sinnliche Geste des Rock’n’Roll im Blick.

Eine Szene aus dem Film "Elvis" in denen die Fans mit ihren Armen versuchen den Elvis Darsteller zu berühren.

Filmstill aus „Elvis“

Schwer zu sagen, wer es erfunden hat. Es war keine Einzelperson, niemand ist eines Morgens (oder eines Nachmittags) aufgewacht, hat die Gitarre zur Hand genommen, eine Akkordfolge angestimmt und erfreut ausgerufen: Klingt gut! Ich nenne es Rock ’n’ Roll!

Klar ist aber, dass Rock ’n’ Roll schwarze Musik ist. Gefühlt, kreiert, verfeinert, herausgequetscht und mit Swing-Jazz, Boogie und Blues vermischt von schwarzen Musiker:innen, Nachfahren von in die USA verschleppten Sklav:innen. Arthur Crudup war einer von ihnen. Der 1905 im Mississippidelta geborene Blues-Interpret nahm 1946 den Song „That’s All Right“ auf, er spielte dazu abwechselnd zwei Akkorde auf seiner Gitarre (A- und D-Dur, für die „klassische“ Bluesschema-Kadenz hätte eigentlich noch die Dominante, E-Dur, dazugehört, aber so etwas stört keinen großen Geist) und ließ sich von Kontrabass und Schlagzeug begleiten.

Die Schellackplatte erschien ein Jahr nach Louis Jordans Early-Rock-’n’-Roll-Klassiker „Caledonia“, und fünf Jahre vor Ike Turners stilbildendem Song „Rocket 88“. Bekannter als das Original wurde 1954 die „That’s All Right“-Version eines weißen, ebenso aus Mississippi stammenden 19-Jährigen, die dieser für Sun Records aufnahm. Crud­up sah trotz diverser Rechtsstreitigkeiten angeblich zeit seines Lebens keinen Dollar Tantiemen von den Millionen, die der Song machte.

Elvis Presleys tragische Existenz

Regisseur Baz Luhrmann weiß, auf welch dünnes Eis man sich begibt, wenn man das Leben des – für viele Menschen – König des Rock ’n’ Roll referiert. Denn er weiß, wie bekannt die Eckdaten von Elvis Presleys tragischer Existenz sind, wie tief in aller Ohren seine Musik sitzt, was er geklaut, geshakt, gelitten und geleistet hat und wie sehr man ignorant-rassistischer Erzählungen über den Sänger überdrüssig ist.

Aus diesen Gründen spiegeln Luhrmann und sein Co-Drehbuchautor Jeremy Doner Elvis’ Taten. Als einen narrativen Spiegel setzen sie Elvis’ Manager ein: Col. Tom Parker (Tom Hanks im Fatsuit), der weder seinen echten Namen benutzte (der gebürtige Holländer wanderte in den 1920ern illegal in die Staaten ein) noch ein echter Colonel war, erzählt im Film die Legende aus seiner Sicht. Bewaffnet mit einem Narrenzepter, das aus Parkers früherem Wirkungsort, einem Zirkus, stammt, stapft er mit im Mundwinkel festgeklebtem Zigarrenstummel wacker durch die Geschichte.

Zuschauerinnen erschrecken sich anfangs über ihre eigenen, spitzen, heraus­brechenden Lustschreie

Parker hört Elvis, dessen Kindheit in einem schwarzen Wohnviertel mit illegalen Blues-Nachtclub- und legalen Gospel-Gottesdienst-Erfahrungen ein paar wunderschön ineinander gleitende Sequenzen gewidmet sind, das erste Mal im Radio. Natürlich mit dessen 1954er Version von „That’s All Right“, die Luhrmann zuvor im Film von Crudup (Gary Clark Jr.) intonieren ließ, als eine von vielen Initialzündungen für den jungen Elvis, der ihm begeistert zuhört.

Die schwarzen Vorbilder

Weil dieser Elvis, dessen Single überall läuft und bis dahin erfolgreiche, konservative, weiße Südstaaten-Countryheuler wie Hank Snow (David Wenham) und dessen Sohn Jimmie (Kodi Smit MacPhee) schnell alt aussehen lässt, weil dieser Junge weiß ist, wittert der showerfahrene, geldgierige, unerschrockene Parker monetäre Morgenluft: Mit Elvis kann man schwarzen Sound zu weißen Dollars machen.

Für eine opulente, von der Kamerafrau Mandy Walker fantasiereich und fließend aufgenommene Hayride-Konzert-Szenerie haben Luhrmann und seine Frau, die oscarprämierte Kostümbildnerin Catherine Martin, und die Luxus-Designerin Miuccia Prada ihren Elvis (Austin Butler) in einen pinkfarbenen Zoot Suit gesteckt, einen dieser überschnittenen Anzüge, die in solchen Farben vor allem von den zeitgenössischen schwarzen Jazz- und Swingkünstlern getragen wurden – auch das eine von Elvis’ Referenzen an seine schwarzen Vorbilder.

Triebgestaut waren sie alle

Bevor Parker Elvis zum ersten Mal live erlebt, beobachtet er den jungen Mann zunächst backstage beim Gebet mit der Familie (Gladys und Vernon Presley: Helen Thomsen und Richard Roxburgh). Sodann geht Elvis mit Band auf die Bühne, schlägt ein paar Akkorde, beginnt zu röhren und zu stöhnen – und lässt das Becken kreisen. Was auf dem Originalmaterial des echten und auch bei diesem fiktionalen Elvis, wenn man ehrlich ist, etwas albern aussieht: Es ist schließlich gar kein wirklich rhythmischer Hüftschwung, es findet sich keine Laszivität in seinen Bewegungen.

Stattdessen springt Elvis wie unter Strom auf die Zehenspitzen und stößt sein Pelvis, sein Energiezentrum, würde man als Eso­te­ri­ke­r:in sagen, in der locker sitzenden rosa Hose ruckartig gen Publikum. Und dieses Publikum, sofern weiblich und hetero oder männlich und homo, oder auch umgekehrt, denn triebgestaut waren sie alle, sofern also irgendwie empfänglich für diese vage, unverschämte, ungewöhnliche Demonstration von weißer, sexueller Lust, flippt komplett aus.

Die religiöse und die sexuelle Lust

„Elvis“. Regie: Baz Luhrmann. Mit Austin Butler, Tom Hanks u. a. USA/Australien 2022, 159 Min.

Es ist ein überzeugender, musikdefinierender Moment, mit dem Luhrmann die sinnliche Geste des Rock ’n’ Roll zu erfassen sucht. Er zeigt in grandiosen Schnittcollagen, wie Zuschauerinnen sich eingangs über ihre eigenen, spitzen, herausbrechenden Lustschreie erschrecken. Und macht gleichzeitig klar, dass die Elvismania, der orgiastische Schrei aus weiblichen Kehlen, bereits um die Ecke lauert, inklusive der Angst vor dem Höllenfeuer angesichts der sündigen Gedanken. Wobei beides, die religiöse und die sexuelle Lust, klar verbunden sind: Denn Ekstase bieten beide.

„Elvis“ schwappt energisch weiter durch historische Ereignisse: Ein Elvis-Konzert, bei dem er – „no wiggling!“ – die Hüfte nicht schwingen durfte, es doch tat und abgeführt wurde; ein wigglefreier, peinlicher TV-Auftritt; Elvis’ Militärzeit in Deutschland, in der er Priscilla (Olivia DeJonge) kennen- und lieben lernte; Elvis’ Entthronisierung durch Beatbands und Politik; seine albernen Filme; sein Comeback als Black-Leather-Bad-Boy; und die windigen Geschäfte und Lügen, mit denen Parker ihn bis zum Ende seines Lebens als jumpsuittragendes Michelin-Männchen mit ungesundem, verdrogtem Bananen-Erdnussbutter-Sandwich-Körper in Las Vegas festtackert.

Luhrmann porträtiert Elvis als einen Menschen mit politischem Gewissen, als einen Menschen, der ins Grübeln kommt, wenn sein Freund B. B. King (Kelvin Harrison Jr.) angesichts des Wiggle-Verbots zu ihm sagt: „Wovor hast du Angst? Du bist weiß, du kannst bewegen, was du willst. Bei mir reicht es, über die Straße zu gehen.“ Der Mord an Martin Luther King, dem Leader der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, trifft Elvis schwer.

Modern getunte Songs

Musikalisch greift Luhrmann, dessen eklektische Auswahl schon „Romeo und Julia“ auflockerte, und der in der Serie „The Get Down“ sein Interesse an den „Origins“ von Musik kundtat, genauso in die Vollen wie bei seiner kapriziösen Visualität: Von Elvis gesungene, von Butler überzeugend gecoverte sowie jede Menge mit Kol­la­bo­ra­teu­r:in­nen wie Tame Impala oder Jack White modern getunte Songs fließen ineinander wie bei einem gut aufgelegten DJ. Und lassen doch nie vergessen, welchen Einfluss die Musik von Elvis und seinen unbekannteren Vorbildern hatte und hat.

In „Elvis“ geht es nicht darum, mit einem authentischen Südstaaten-Setting und Originalsongs die Wahrheit zu verkünden. Es geht um Sinnlichkeit, die der angeblich eher verklemmte, sexuell frustrierte, vermutlich suchtkranke und essgestörte Musiker vielleicht selbst gar nicht genießen konnte. Doch er konnte sie vermitteln, Tausenden von (verklemmten) Menschen gleichzeitig. Der kollektive Klimax bebt noch immer nach.

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